Shibumi: Thriller (German Edition)
blähten sich träge im Wind, der einen leichten Zedernduft hereinwehte. Hana trug ein langes Kleid aus pflaumenblauer Seide. Als Hel und Hannah eintraten, lächelte sie ihnen zu, während sie letzte Hand an einen Tischschmuck aus zarten glockenförmigen Blüten legte. »Pünktlich wie immer. Der Lunch ist gerade serviert worden.« In Wirklichkeit wartete sie bereits seit zehn Minuten, doch es gehörte zu ihren Künsten, anderen das Gefühl zu geben, sie beherrschten die gesellschaftliche Etikette. Ein Blick in Hannahs Gesicht verriet ihr, dass die Unterredung mit Hel nicht gut für das Mädchen verlaufen war, daher nahm sie bereitwillig die Bürde der Konversation auf sich.
Als Hannah ihre gestärkte Leinenserviette entfaltete, bemerkte sie, dass ihr nicht das Gleiche serviert worden war wie Hana und Hel. Für sie gab es ein Stück Lammfleisch mit Pilaw und gedünsteten Zucchini, während die anderen nur frisches oder blanchiertes Gemüse mit ungeschältem Reis aßen.
Lächelnd erklärte ihr Hana: »Unser Alter und unsere früheren Ausschweifungen zwingen uns heute, mit dem Essen ein bisschen vorsichtig zu sein, mein Kind. Doch unseren Gästen muten wir diese spartanische Diät nicht zu. Und wenn ich selbst einmal verreise, nach Paris zum Beispiel, dann esse ich, als wäre ich halb verhungert. Essen ist für mich eine Art gezähmtes Laster. Eines, das besonders schwierig zu bändigen ist, wenn man in Frankreich lebt, wo das Essen, je nachdem, welchen Standpunkt man einnimmt, entweder das zweitbeste oder das schlechteste der Welt ist.«
»Wie meinen Sie das?«, erkundigte sich Hannah.
»Vom Standpunkt des Schlemmers aus betrachtet steht das französische Essen gleich hinter der klassischen chinesischen Küche an zweiter Stelle. Aber die Speisen werden so zubereitet, derart mit Saucen übergossen, gespickt und geschabt und gestopft und gewürzt, dass sie vom Nährwert her einer Katastrophe gleichkommen. Deswegen hat auch kein anderes westliches Volk einerseits so große Freude am Essen und andererseits so große Schwierigkeiten mit der Leber wie die Franzosen.«
»Und was halten Sie vom amerikanischen Essen?«, fragte Hannah mit ironischem Lächeln, denn sie gehörte zu den zahlreichen Amerikanern, die im Ausland ihre Weltläufigkeit dadurch beweisen wollen, dass sie alles Amerikanische herabsetzen.
»Darüber kann ich wirklich nicht urteilen; ich war noch nie in Amerika. Aber Nikolai hat dort gelebt, und er sagte mir, dass es bestimmte Gebiete gibt, auf denen die amerikanische Küche hervorragend ist.«
»Ach, wirklich?« Hannah musterte Nikolai hochmütig. »Es überrascht mich zu hören, dass Mr. Hel etwas Gutes über Amerika oder die Amerikaner zu sagen weiß.«
»Es sind nicht die Amerikaner, die mich so verärgern; es ist der Amerikanismus: eine gesellschaftliche Krankheit der postindustriellen Welt, die unweigerlich eine merkantile Nation nach der anderen anstecken muss und die nur deshalb als ›amerikanisch‹ bezeichnet wird, weil Ihr Volk den am weitesten fortgeschrittenen Fall dieser Krankheit darstellt. Es ist etwa so, wie man von der spanischen Grippe oder von der japanischen Enzephalitis Typ B spricht. Die Symptome des Amerikanismus sind der Verlust der Arbeitsethik, ein Schrumpfen der inneren Ressourcen und das ständige Bedürfnis nach äußerer Stimulierung, gefolgt von geistigem Verfall und moralischer Stumpfheit. Man erkennt das Opfer an seinem unablässigen Bemühen, Kontakt mit sich selbst zu finden, zu glauben, seine geistige Schwäche sei ein interessanter psychologischer Knacks, in seiner Flucht vor der Verantwortung einen Beweis dafür zu sehen, dass er und sein Leben weit offen seien für neue Erfahrungen. In den letzten Stadien ist der Erkrankte so tief gesunken, dass er nach der trivialsten aller menschlichen Beschäftigungen giert: dem Vergnügen. Was aber das Essen anbelangt, so wird niemand leugnen, dass die Amerikaner sich in einer kleinen Sparte wirklich auszeichnen – in der des Snack nämlich. Und ich argwöhne, dass darin eine vielsagende Symbolik liegt.«
»Arrêtes un peu et sois sage«, warnte Hana mit leichtem Kopfschütteln. Dann lächelte sie Hannah zu. »Ist er nicht grässlich, wenn er auf die Amerikaner zu sprechen kommt? Das ist ein Charakterfehler von ihm. Sein einziger, wie er mir versichert. Übrigens, Hannah, ich wollte Sie schon lange fragen, was Sie an der Universität gehört haben?«
»Was ich gehört habe?«
»Welches Fach Sie studiert haben«,
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