Shibumi: Thriller (German Edition)
seine verschiedenen Inputquellen nicht überein. Wir haben Altersangaben für Nikolai Hel von siebenundvierzig bis zweiundfünfzig. Und sehen Sie sich das an ! Bei der Nationalität können wir zwischen russisch, deutsch, chinesisch, japanisch, französisch und costaricanisch wählen. Costaricanisch, Sir?«
»Die beiden letzten Auskünfte sind auf seine Pässe zurückzuführen; er besitzt einen französischen und einen costaricanischen Pass. Im Moment lebt er in Frankreich – jedenfalls war er vor kurzem noch dort. Die anderen Nationalitäten haben mit seiner Abstammung, seinem Geburtsort und seinen wichtigsten kulturellen Bezugspunkten zu tun.«
»Und was ist seine wahre Nationalität?«
Mr. Diamond fuhr fort, zum Fenster hinauszustarren. »Keine.«
»Sie scheinen einiges über den Mann zu wissen, Sir.« Der Ton des Ersten Assistenten klang forschend, aber vorsichtig. Er war neugierig, andererseits aber auch zu klug, um Fragen zu stellen.
Eine Weile gab Diamond keine Antwort. Dann sagte er: »Ja. Ich weiß einiges über ihn.« Er wandte sich vom Fenster ab und ließ sich schwer in seinen Schreibtischsessel sinken. »Machen Sie weiter mit den Nachforschungen. Graben Sie alles aus, was Sie finden können. Das meiste davon wird widersprüchlich, vage oder einfach falsch sein, aber wir müssen alles in Erfahrung bringen, was über ihn bekannt ist.«
»Dann glauben Sie, dass dieser Nikolai Hel etwas mit unserem Fall zu tun hat?«
»Bei unserem Pech? Höchstwahrscheinlich.«
»Inwiefern, Sir?«
»Das weiß ich nicht! Machen Sie weiter.«
»Jawohl, Sir.« Der Erste Assistent rief die nächsten Daten ab.
» Äh … Sir? Wir haben hier drei infrage kommende Geburtsorte für ihn.«
»Shanghai.«
»Sind Sie sicher, Sir?«
»Ja!« Und nach einer Pause: »Das heißt, relativ sicher.«
SHANGHAI
Wie gewöhnlich um diese Jahreszeit werden von See her kühle Abendwinde über die Stadt hin bis auf die warme Landmasse von China getrieben; und die Gardinen vor den Glastüren zur Veranda der großen Villa in der Avenue Joffre in der französischen Niederlassung bauschen sich in der Brise.
General Kishikawa Takashi nimmt einen Go-Stein aus der Lackschale, dem ke, und hält ihn lässig zwischen der Spitze des Mittel- und dem Nagel des Zeigefingers. Einige Minuten vergehen schweigend, doch seine Gedanken sind nicht beim Spiel, das sich in der hundertsechsundsiebzigsten Phase befindet und anfängt, sich auf das Unvermeidliche hin zu konkretisieren. Der Blick des Generals ruht auf seinem Gegner, der seinerseits ganz in die Muster aus schwarzen und weißen Steinen auf dem mattgelben Brett vertieft ist. Kishikawa-san hat beschlossen, den Jungen nach Japan zu schicken und ihm diese Entscheidung noch heute Abend mitzuteilen. Aber nicht gleich. Das würde den Genuss an der Partie stören, und das wäre ziemlich rücksichtslos, weil nämlich der Junge zum ersten Mal gewinnt.
Die Sonne ist hinter der französischen Niederlassung über dem chinesischen Festland untergegangen. Innerhalb der alten Stadtmauern sind die Laternen entzündet worden, und der Geruch zahlloser Abendmahlzeiten erfüllt das Gewirr der engen Straßen. Auf dem Huangpu und dem Sutschou schimmern die matten Lichter der Wohnsampans, und alte Frauen mit an den Knöcheln zusammengebundenen Hosen schichten Steine auf, um die Kochfeuer in der Waage zu halten, denn der Wasserstand des Flusses ist niedrig, und die Sampans, deren Holzbäuche im gelben Schlamm stecken, haben sich auf die Seite gelegt. Menschen, die sich zum Abendessen verspätet haben, trotten über die Stealing-Hen-Brücke. Ein berufsmäßiger Briefschreiber schwingt eilig seinen Pinsel, denn er möchte sein Tagewerk beenden, und das junge Mädchen, für das er nach einer seiner »Sechzehn Niemals Versagenden Formeln« einen Liebesbrief konzipiert, ist Analphabetin und wird seine kalligraphische Nachlässigkeit nicht bemerken. Der Bund, diese Prachtstraße voll imposanter Handelshäuser und Hotels, prunkvolles Symbol der Macht und Selbstsicherheit des Empires, liegt schweigend im Dunkeln, denn die britischen taipans sind geflohen; die North China Daily News druckt keinen Klatsch, keine salbungsvollen Ermahnungen, keine höflichen Kommentare zur Weltlage mehr. Selbst das Sasson House, die eleganteste Fassade am Bund, erbaut von den Profiten aus dem Opiumhandel, ist zum profanen Hauptquartier der Besatzungsmacht herabgewürdigt worden. Die habgierigen Franzosen, die überheblichen Briten, die
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