Shibumi: Thriller (German Edition)
geringschätzig sokaijin genannt, und die Bauern murrten immer vernehmbarer über diese nutzlosen Leute, die reich oder bedeutend genug waren, um dem Grauen der Städte entfliehen zu können, es aber nicht fertigbrachten, für ihren Unterhalt zu arbeiten.
Otake-san selbst hatte sich immer nur einen einzigen Luxus gegönnt: seinen Garten. Nun grub er ihn um und pflanzte Gemüse. Charakteristisch für ihn war nur, dass er die Steckrüben, Rettiche und Möhren bunt durcheinandersäte, so dass ihre grünen Köpfe dem Auge gefällige Muster bildeten. »Gewiss, das macht es mühsamer, sie zu pflegen, doch wenn wir in unserem verzweifelten Kampf ums Überleben auf die Schönheit verzichten, dann haben die Barbaren uns schon besiegt.«
Schließlich musste die Regierung in ihren Rundfunksendungen hier und da zugeben, dass eine Schlacht oder eine Insel verloren worden war; andernfalls hätte sie in Anbetracht der Berichte heimkehrender Verwundeter auch noch die letzte Glaubwürdigkeit verloren. Jedes Mal, wenn eine solche Niederlage verkündet wurde (stets von der Behauptung begleitet, es handele sich um einen taktischen Rückzug, um eine Frontbegradigung oder um eine Verkürzung der Nachschubwege), endete die Nachrichtensendung mit dem alten beliebten Lied »Umi Yukaba«, dessen süße herbstliche Melodie zum Leitmotiv dieser Ära der Dunkelheit und der Verluste wurde.
Otake-san reiste jetzt nur noch sehr selten zu Go-Turnieren, denn die Transportmittel wurden ausschließlich für militärische und industrielle Zwecke gebraucht. Ganz wurden das Nationalspiel und die Berichte über wichtige Wettbewerbe in den Zeitungen jedoch nicht aufgegeben, denn die Regierung sah ein, dass dies eine der traditionellen Feinheiten der japanischen Kultur war, für die das Volk kämpfte.
Immer wenn Nikolai seinen Lehrer zu diesen seltenen Turnieren begleitete, wurde er Zeuge der Kriegsfolgen. Er sah Städte, die dem Erdboden gleichgemacht, Menschen, die obdachlos geworden waren. Aber den Durchhaltewillen des Volkes hatten die Bomben nicht brechen können. Dass strategische (das heißt gegen die Zivilbevölkerung gerichtete) Bombenangriffe den Kampfesmut eines Volkes lähmen könnten, ist eine ironische Fiktion. In Deutschland, England und Japan bewirkten diese strategischen Bombardements nur, dass die Menschen sich der gemeinsamen Sache umso intensiver bewusst wurden und dass sich ihr Widerstandsgeist in der Feuerprobe gemeinsam erduldeter Leiden festigte.
Einmal, als der Zug stundenlang auf einem Bahnhof hielt, weil die Strecke beschädigt war, ging Nikolai langsam auf dem Bahnsteig auf und ab. Überall auf der Station standen reihenweise Tragbahren mit Verwundeten, die ins Lazarett gebracht werden sollten. Einige waren schneeweiß vor Schmerzen und wie versteinert von der Anstrengung, sie zu verbergen, aber nicht einer schrie; nirgends war ein Stöhnen zu hören. Alte Menschen und Kinder gingen, Tränen des Mitleids in den Augen, von einer Bahre zur anderen, beugten sich über die Verwundeten und murmelten: »Danke. Danke. Gokuro sama. Gokuro sama.«
Eine gebeugte alte Frau kam auf Nikolai zu und starrte in sein abendländisches Gesicht mit den seltsamen, glasgrünen Augen. Ihre Miene verriet keinen Hass, nur eine Mischung aus Verwunderung und Enttäuschung. Traurig schüttelte sie den Kopf und wandte sich wieder ab.
Nikolai ging zu einem ruhigeren Teil des Bahnsteigs, setzte sich und betrachtete eine große Cumuluswolke. Er entspannte sich und konzentrierte seine Gedanken auf ihr langsames Dahingleiten am blauen Himmel, und wenige Minuten darauf entfloh er in eine kurze mystische Entrückung, in der ihn das Geschehen um ihn herum und das Schuldbewusstsein aufgrund seiner Herkunft nicht mehr berühren konnten.
Der zweite Besuch des Generals erfolgte gegen Ende des Krieges. Er traf an einem Frühlingsnachmittag unangekündigt ein und forderte Nikolai nach einem kurzen Gespräch mit Otake-san auf, ihn auf eine kleine Reise zu begleiten, weil er sich die Kirschblüte am Kajikawafluss bei Niigata ansehen wollte. Bevor der Zug landeinwärts durch die Berge fuhr, trug er sie in nördlicher Richtung durch den Industriestreifen zwischen Yokohama und Tokio, wo er nur zögernd auf einem durch Bombardierungen und Überbeanspruchung geschwächten Bahnkörper dahinkroch, vorbei an endlosen Trümmerfeldern, Folge der wahllos gesetzten Bombenteppiche, die Wohnhäuser und Fabriken, Schulen und Tempel, Geschäfte, Theater und Krankenhäuser in Schutt
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