Shibumi: Thriller (German Edition)
Verlassenheit in seinen Augen lesen. »Ich habe nach ihnen gesucht, Nikko. Doch das Viertel, in dem sie wohnten, war … Es existierte nicht mehr. Deswegen habe ich beschlossen, ihnen bei den Kirschblüten von Kajikawa Lebewohl zu sagen, weil ich dort einmal mit meiner Tochter gewesen bin, als sie noch klein war, und weil ich auch einmal mit meinem … Enkel hinzufahren hoffte. Willst du mir helfen, Abschied von ihnen zu nehmen, Nikko?«
Nikolai räusperte sich. »Wie kann ich helfen, Sir?«
»Indem du mit mir unter den Kirschbäumen spazieren gehst. Indem du mich mit dir reden lässt, wenn ich das Schweigen nicht länger ertrage. Du bist wie ein Sohn für mich, und du …« Der General schluckte mehrmals und senkte den Blick.
Eine halbe Stunde später drückte der General die Finger an seine Augen und schniefte ein wenig. Dann sah er Nikolai an. »Also gut. Erzähl mir von dir, Nikko. Machst du Fortschritte bei deinem Spiel? Ist shibumi immer noch dein Ziel? Wie geht es der Familie Otake – haben sie es sehr schwer?«
Und Nikolai bekämpfte das Schweigen mit einer Sturzflut von Banalitäten, die den General vor der kalten Stille in seinem Herzen abschirmen sollten.
Drei Tage lang wohnten sie in einem altmodischen Hotel in Niigata und gingen jeden Morgen zum Ufer des Kajikawa hinunter, wo sie gemächlich zwischen den Reihen der blühenden Kirschbäume einherwanderten. Aus der Ferne glichen die Bäume duftigen rosa Wolken. Der Pfad und die Straße waren mit einer Blütenschicht bedeckt, überall schwebten rosa Blättchen herab und starben im Augenblick ihrer größten Schönheit. Kishikawa-san fand in dieser eigenartigen Symbolik Trost.
Sie sprachen selten auf ihren Spaziergängen, und wenn, dann nur leise. Ihre Kommunikation bestand aus Gedankenfragmenten, aus einzelnen Worten oder abgebrochenen Sätzen, doch sie verstanden einander genau. Zuweilen setzten sie sich an die hohen Uferbefestigungen des Flusses und starrten in das vorbeiströmende Wasser, bis es schien, als stehe der Fluss still und sie selbst trieben stromaufwärts. Der General trug Kimonos in Braun- und Rosttönen, während Nikolai in die dunkelblaue Studentenuniform mit dem steifen Kragen und der Schirmmütze auf dem hellen Haar gekleidet war. So sehr boten sie das typische Bild von Vater und Sohn, dass die Vorübergehenden verblüfft waren, wenn sie die ungewöhnliche Augenfarbe des jungen Mannes bemerkten.
Am letzten Tag blieben sie länger als sonst unter den Kirschbäumen, wanderten bis in den Abend hinein durch die breite Allee. Als das Tageslicht allmählich erlosch, schien vom Boden ein gespenstischer Schimmer emporzusteigen, der die Bäume von unten beleuchtete und den Blütenschnee akzentuierte. Ruhig begann der General zu sprechen, ebenso sehr zu sich selbst wie zu Nikolai. »Wir haben Glück gehabt. Wir durften die drei schönsten Tage der Kirschblüte genießen. Den Tag der Verheißung, da sie noch nicht ganz entfaltet sind. Dann den perfekten Tag der Verzauberung. Und heute haben sie ihren Höhepunkt bereits überschritten. Dies ist der Tag des Erinnerns. Der traurigste von allen dreien – aber der reichste. In all dem liegt eine Art … Trost? … Nein, eher Erquickung. Und wieder einmal fällt mir auf, was für ein billiger Gaunertrick die Zeit doch ist. Ich bin sechsundsechzig, Nikko. Von deinem Standpunkt aus gesehen – der du in die Zukunft blickst – sind sechsundsechzig Jahre eine sehr lange Zeit. Es ist mehr als das Dreifache deiner gesamten Lebenserfahrung. Von meinem Standpunkt aus jedoch – der ich in die Vergangenheit schaue – waren diese sechsundsechzig Jahre wie das Herabschweben einer Kirschblüte. Ich habe das Gefühl, mein Leben war ein Bild, hastig gezeichnet, doch nie sorgfältig ausgetuscht … aus Zeitmangel. Zeit. Erst gestern – aber vor über fünfzig Jahren – ging ich mit meinem Vater an diesem Fluss entlang. Damals gab es noch keine Uferbefestigungen; und keine Kirschbäume. Das war gestern – und dennoch in einem anderen Jahrhundert. Unser Sieg über die russische Marine lag noch zehn Jahre weit in der Zukunft. Unser Kampf an der Seite der Alliierten im großen Krieg war noch über zwanzig Jahre entfernt. Ich sehe noch das Gesicht meines Vaters. (Und in der Erinnerung blicke ich stets zu ihm empor.) Ich weiß noch, wie groß und stark sich seine Hand für meine kleinen Finger anfühlte. Und in der Brust spüre ich immer noch – als hätten die Nerven ein eigenständiges Gedächtnis – das
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