Shibumi: Thriller (German Edition)
Ihre Bildung verkauften sie in Stundeneinheiten. Ihre Eheschließungen waren emotionale Handelsverträge, sofort gebrochen, wenn eine Partei ihren Verpflichtungen nicht nachkam. Ehre bestand für sie in fairem Handel. Und sie waren keineswegs die klassenlose Gesellschaft, für die sie sich ausgaben, sondern eine Einklassengesellschaft: die handeltreibende. Ihre Elite waren die Reichen; ihre Arbeiter und Bauern sahen sie günstigstenfalls als minderbemittelte Versager, die sich die monetäre Leiter zur Mittelschicht emporzuklimmen bemühten. Die Wertmaßstäbe der Bauern und Proletarier Amerikas waren die gleichen wie die der Versicherungsvertreter und leitenden Angestellten, der Unterschied bestand einzig darin, dass sich die Wertmaßstäbe der Unterschicht in bescheideneren Wohlstandssymbolen ausdrückten: Motorboot statt Jacht, Kegelverein statt Country Club, Atlantic City statt Monaco.
Erziehung und Veranlagung gemeinsam hatten bewirkt, dass Nikolai Achtung und Respekt vor den echten Gesellschaftsklassen empfand: den Bauern, den Handwerkern, den Künstlern, den Soldaten, den Gelehrten, den Priestern. Aber er hatte nur Verachtung übrig für die künstliche Gesellschaftsklasse der Kaufleute, die Gewinn aus dem Kauf und Verkauf von Dingen herausschlagen, die sie nicht selber herstellen, die Macht und Reichtum in einem Maß ansammeln, das in keiner Relation zu ihrem Arbeitsaufwand steht, und die verantwortlich sind für alles, was Kitsch, für alles, was Veränderung ohne Fortschritt, für alles, was Verbrauch ohne Nutzen ist.
Dem Rat seiner Mentoren folgend, bewahrte Nikolai nach außen hin eine unauffällige Fassade unbeteiligten shibumis und hielt seine wahre Meinung vor den Kollegen sorgfältig verborgen. Er kam ihrer Eifersucht zuvor, indem er gelegentlich Hilfe bei einem einfachen Entschlüsselungsproblem erbat oder seine Fragen so formulierte, dass sie fast mit der Nase auf die korrekten Antworten gestoßen wurden. Sie ihrerseits behandelten ihn wie eine Art Freak, ein intellektuelles Phänomen, einen Wunderknaben von einem anderen Stern. Insofern waren sie sich der genetischen und kulturellen Kluft, die sie von ihm trennte, dumpf bewusst, nur dass in ihren Augen sie es waren, die drinnen saßen, während er draußen blieb.
Und das kam ihm durchaus gelegen, denn sein eigentliches Leben konzentrierte sich auf sein Haus mit dem schönen Innenhof am Ende einer schmalen Nebenstraße im Asakusa-Bezirk. In dieses altmodische Viertel im nordwestlichen Teil der Stadt drang die Amerikanisierung nur langsam vor. Gewiss, kleine Werkstätten produzierten bereits Imitationen von Zippo-Feuerzeugen und Zigarettenetuis mit der Abbildung einer Dollarnote auf dem Deckel, und in einigen Bars hörte man japanische Orchester spielen, die den »Big Band«-Sound imitierten, während forsche junge Sängerinnen sich schrill durch »Don’t Sit Under the Apple Tree With Anyone Else But Me« mühten, man sah zuweilen einen jungen Mann, der sich kleidete wie ein Filmgangster, weil er das für modern und amerikanisch hielt, und es gab eine Rundfunkwerbung auf Englisch, die den Hörern versicherte, Akadama-Wein mache alle, die ihn tränken, »sehl, sehl glücklich«. Aber all das drang nicht unter die Oberfläche, und in Nikolais Bezirk wurde im Spätmai noch immer das Fest der Sanja Matsuri gefeiert, bei dem die Straßen blockiert waren von schwitzenden jungen Männern, die unter dem Gewicht der schwarz lackierten, reich vergoldeten Sänften schwankten, während ihre Augen in einer sakebeschwingten Trance leuchteten und sie unter ihrer Last taumelten und washoi, washoi sangen, angeführt von fantastisch tätowierten, nur mit einem fundoshi -Lendentuch bekleideten Männern, deren Schultern, Arme, Schenkel und Rücken von dem augenverwirrenden »Anzug aus Tinte« bedeckt waren.
Nikolai stapfte auf dem Heimweg von diesem Fest, vom Sake benommen durch den Regen, als er Herrn Watanabe traf, einen ehemaligen Drucker, der auf der Straße Streichhölzer verkaufte, weil ihm sein Stolz das Betteln verbot, obwohl er schon zweiundsiebzig war und alle Angehörigen verloren hatte. Nikolai behauptete, dringend Streichhölzer zu benötigen, und erbot sich, den ganzen Vorrat aufzukaufen. Herr Watanabe war hocherfreut, ihm zu Diensten sein zu können, da dieses Geschäft den Hunger wieder um einen weiteren Tag bannen würde. Doch als er entdeckte, dass der Regen die Streichhölzer verdorben hatte, verbot ihm sein Ehrgefühl, sie zu verkaufen,
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