Shibumi: Thriller (German Edition)
für sich allein auf dem Brett schwierige Stellungen. Die Arbeit im San-Shin-Gebäude war rein mechanisch und stellte keine größere intellektuelle Herausforderung dar als das Lösen eines Kreuzworträtsels; um wenigstens einen Teil seiner Geisteskräfte zu mobilisieren, begann Nikolai an einem Buch mit dem Titel Rosen und Dornen auf dem Weg zu Go zu arbeiten, das später als Privatdruck und unter Pseudonym herausgegeben wurde und sich bei den aficionados des Spiels einer gewissen Beliebtheit erfreute. Das Buch war ein kunstvoll angelegter Scherz in Gestalt eines Berichts und Kommentars zum Spiel eines fiktiven Meisters um die Jahrhundertwende. Während das Spiel des »Meisters« dem durchschnittlichen Spieler klassisch, ja sogar brillant erscheinen musste, gab es überall kleine Schnitzer und irrelevante Platzierungen, die beim erfahreneren Leser Stirnrunzeln hervorriefen. Das wirkliche Vergnügen an diesem Buch lag im Kommentar eines gut informierten Dummkopfs, dem es gelang, jedem Schnitzer den Anschein kühner Glanzleistung zu verleihen, und der die Grenzen der Vorstellungskraft strapazierte, indem er den einzelnen Zügen Metaphern für Leben, Schönheit und Kunst beifügte, allesamt überaus raffiniert und gelehrt vorgetragen, doch bar jeder Bedeutung. Das Buch war in der Tat eine subtile, geschickte Parodie auf das intellektuelle Parasitentum der Kritiker, und das Vergnügen daran entsprang zum großen Teil dem Bewusstsein, dass sowohl die Spielfehler als auch der wortreiche Nonsens des Kommentars so gut kaschiert waren, dass die meisten Leser bei der Lektüre ernst und zustimmend nicken würden.
Am Ersten eines jeden Monats schrieb Nikolai an Otake-sans Witwe und erhielt als Antwort Familiennachrichten über ehemalige Schüler und die Otake-Kinder. Auf diesem Wege wurde ihm auch Marikos Tod in Hiroshima bestätigt.
Als er von dem Atombombenabwurf hörte, hatte er sofort befürchtet, Mariko könnte unter den Opfern sein. Mehrmals schrieb er an die Adresse, die sie ihm gegeben hatte. Die ersten Briefe verschwanden in dem allgemeinen Chaos nach der Bombardierung, der letzte aber kam zurück mit dem Vermerk, diese Adresse existiere nicht mehr. Eine Zeit lang wollte er nicht wahrhaben, dass das Schlimmste eingetreten war, und stellte sich vor, Mariko sei vielleicht bei Verwandten zu Besuch gewesen, als die Bombe fiel, oder sie habe etwas aus einem tiefen Keller geholt, oder sie habe vielleicht … So konstruierte er Dutzende von unwahrscheinlichen Möglichkeiten für ihr Überleben. Aber sie hatte ihm fest versprochen, ihm über Frau Otake zu schreiben, und es kam nie ein Brief von ihr.
Innerlich war er auf die endgültige Gewissheit schon vorbereitet, als die Nachricht von Otake-sans Witwe kam. Dennoch fühlte er sich eine Zeit lang bedrückt und leer und empfand bitteren Hass auf die Amerikaner, mit denen er zusammenarbeitete. Aber er war bemüht, sich von diesem Hass zu befreien, weil solch schwarze Gedanken den Weg zur mystischen Entrückung blockierten, in der doch für ihn die Rettung vor den verzehrenden Auswirkungen von Depression und Trauer lag. Deshalb wanderte er einen ganzen Tag lang allein und ohne etwas wahrzunehmen durch die Straßen seines Bezirks und gab sich der Erinnerung an Mariko hin, ließ vor seinem geistigen Auge seine Gedächtnisbilder von ihr vorüberziehen, rief sich die Freude, die Angst und die Scham ihrer sexuellen Begegnungen zurück, lächelte über kleine gemeinsame Scherze und Streiche. Am späten Abend sagte er ihr Lebewohl und schob sie voll zärtlicher Zuneigung von sich. Zurück blieb eine herbstliche Leere, aber kein brennender Schmerz und Hass, so dass es ihm wieder gelang, auf seine dreieckige Wiese zu fliehen und eins zu werden mit dem Sonnenlicht und dem wogenden Gras, wo er Kraft und Ruhe fand.
Auch mit dem Verlust von General Kishikawa fand er sich ab. Seit ihrem letzten langen Gespräch unter den schneienden Kirschbäumen am Kajikawa hatte Nikolai keinerlei Nachricht mehr von ihm erhalten. Er wusste, dass der General in die Mandschurei versetzt worden war; er hörte, dass die Russen während der letzten Kriegstage, als ein Eingreifen kein militärisches Risiko, dafür aber großen politischen Gewinn bedeutete, dort einmarschiert waren; und aus Gesprächen mit Überlebenden erfuhr er, dass einige hohe Offiziere Zuflucht im seppuku gesucht und die in die Gefangenschaft der Kommunisten Geratenen die Qualen der »Umerziehungslager« nicht überstanden hatten.
Nikolai
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