Shibumi: Thriller (German Edition)
San-Shin-Gebäude übergab der Offizier Nikolai dem Rechnungsbüro mit der Anweisung, einen Beleg für zehn Dollar Besatzungsgeld auszustellen; dann verschwand er, um wenigstens dem Rest seiner Besprechung beizuwohnen, doch nicht ohne Nikolai vorher mit einem raschen Blick gemustert zu haben. »Hör mal. Du bist kein Engländer, wie?« Zu dieser Zeit sprach Nikolai Englisch mit dem Akzent seiner britischen Gouvernanten, und der Offizier konnte den vornehmen Akzent dieses Bengels nicht mit seiner zerlumpten Kleidung und seiner verwahrlosten Erscheinung in Einklang bringen.
»Nein«, antwortete Nikolai.
»Aha!«, sagte der Offizier hörbar erleichtert. »Das dachte ich mir.« Damit begab er sich zu den Aufzügen.
Eine halbe Stunde lang saß Nikolai auf einer Holzbank vor dem Büro und wartete, bis er an der Reihe war, während im Korridor um ihn herum Leute auf Englisch, Russisch, Französisch und Chinesisch diskutierten. Das San-Shin-Gebäude war einer der wenigen Knotenpunkte, an denen die verschiedenen Besatzungsmächte zusammenkamen, und man spürte die Reserviertheit und das Misstrauen unter der oberflächlichen Kameraderie. Über die Hälfte der Menschen, die hier arbeiteten, waren Zivilangestellte, und die Amerikaner überwogen die anderen zahlenmäßig genauso stark, wie ihre Soldaten die übrigen Truppen in ihrer Gesamtheit überwogen. Hier hörte Nikolai zum ersten Mal das grollende r und die metallischen Vokale der amerikanischen Aussprache.
Bis die amerikanische Sekretärin die Tür öffnete und seinen Namen aufrief, war ihm übel geworden, und er wäre beinahe eingeschlafen. Im Vorzimmer drückte man ihm ein Formular in die Hand, das er ausfüllen sollte, während die junge Sekretärin wieder an ihre Schreibmaschine zurückkehrte und nur gelegentlich einen verstohlenen Blick zu diesem unmöglichen Menschen in den schmutzigen Kleidern hinüberwarf. Doch ihre Neugier war nur flüchtig; ihre Aufmerksamkeit galt im Grunde ausschließlich der Verabredung, die sie am Abend mit einem Major hatte, der nach Aussage der anderen Mädchen wirklich nett sein und seine Auserwählte stets in ein richtig vornehmes Restaurant führen sollte, wo er ihr etwas besonders Schönes bot – vorher.
Als er ihr sein Formular übergab, warf die Sekretärin nur einen kurzen Blick darauf, zog die Augenbrauen hoch und stieß ein verächtliches Schnaufen aus. Dennoch brachte sie es der Dame, die das Büro leitete. Innerhalb weniger Minuten wurde Nikolai zu ihr gerufen.
Die Bürovorsteherin war in den Vierzigern, rundlich und freundlich. Sie stellte sich als Miss Goodbody vor. Nikolai lächelte nicht.
Miss Goodbody deutete auf Nikolais Formular. »Weißt du, du musst das richtig ausfüllen.«
»Ich kann nicht. Ich meine, ich kann nicht alle Fragen beantworten.«
»Du kannst nicht?« Jahre pflichtbewussten Beamtentums zuckten vor dieser Vorstellung zurück. »Was soll das heißen …« Sie konsultierte die oberste Zeile. »… Nikolai?«
»Ich kann keine Adresse angeben. Ich habe nämlich keine. Und ich habe auch keine Ausweisnummer. Und keinen – wie hieß das noch gleich? – Arbeitgeber.«
»Arbeitgeber, ja. Die Einheit oder Organisation, bei der du arbeitest oder bei der deine Eltern arbeiten.«
»Ich habe keinen Arbeitgeber. Spielt das eine Rolle?«
»Nun, wir können nichts auszahlen ohne ein Belegformular, das genau ausgefüllt ist. Das verstehst du doch, oder?«
»Ich habe Hunger.«
Sekundenlang war Miss Goodbody ratlos. Sie beugte sich vor. »Gehören deine Eltern zur Besatzungsmacht, Nikolai?« Sie war zu der Vermutung gelangt, dass er ein Soldatenkind sein musste, das von zu Hause weggelaufen war.
»Nein.«
»Bist du etwa allein hier?«, fragte sie ungläubig.
»Ja.«
»Nun …« Stirnrunzelnd zuckte sie mit den Achseln. »Wie alt bist du?«
»Einundzwanzig.«
»Ach du liebe Zeit! Entschuldigen Sie. Ich dachte … Ich meine, Sie sehen eher aus wie vierzehn oder fünfzehn. Aber nun gut, das ist etwas ganz anderes. Also warten Sie mal. Was machen wir denn nur?« In Miss Goodbody schlummerte ein ausgeprägter mütterlicher Trieb, die Sublimation eines Lebens unerprobter Sexualität. Sie fühlte sich seltsam hingezogen zu diesem jungen Mann, der wie ein mutterloses Kind wirkte, dem Alter nach aber ein potenzieller Liebhaber war. Miss Goodbody stufte diese Melange einander widersprechender Gefühle kurzerhand als christliche Nächstenliebe ein.
»Könnten Sie mir nicht einfach meine zehn Dollar geben? Oder
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