Shibumi: Thriller (German Edition)
General Kishikawa dazwischengepasst hätte, wäre er dort gewesen, wanderte ein junges Mädchen. Obwohl er sie nie kennengelernt hatte, wusste er, dass es die Tochter des Generals sein musste. Das junge Mädchen sprach davon, dass sie eines Tages heiraten und einen Sohn bekommen würde. Und ganz nebenbei erwähnte sie noch, dass sie und ihr Sohn sterben, in den über Tokio abgeworfenen Brandbomben verbrennen würden. Sobald sie das gesagt hatte, schien es nur logisch, dass sie sich in Mariko verwandelte, die in Hiroshima gestorben war. Nikolai freute sich sehr, sie wiederzusehen, und sie spielten eine Übungspartie Go, wobei sie schwarze Kirschblüten als Steine benutzte und er weiße. Dann wurde Nikolai selbst zu einem der Steine und blickte aus der mikroskopischen Position auf dem Brett auf die gegnerischen Steine, die immer dicker werdende Mauern rings um ihn aufrichteten. Er versuchte, Verteidigungs-»Augen« zu bilden, doch sie entpuppten sich alle als unecht, und darum begann er die gelbe Fläche des Brettes zu fliehen; die schwarzen Striche rasten an ihm vorbei, als er an Tempo zulegte, bis er über den Rand des Brettes hinaus in eine undurchdringliche Dunkelheit fiel, die sich in eine Zelle verwandelte …
… Wo er erwachte.
Die Zelle war frisch gestrichen – grau – und besaß keine Fenster. Das Deckenlicht war so schmerzhaft grell, dass er die Augen zukneifen musste, um sein Sehvermögen zu schützen.
In dieser Zelle verbrachte Nikolai drei Jahre in Isolierhaft.
Der Übergang vom Albtraum des Verhörs zu den Jahren der Isolation unter der Last der sogenannten »Schweigebehandlung« war nicht abrupt. Zuerst täglich, dann immer seltener erhielt Nikolai Besuch von jenem umständlichen, zerstreuten japanischen Gefängnisarzt, der den Tod des Generals bestätigt hatte. Die Behandlung bestand nur aus Schutzverbänden; Versuche, die Schnitte kosmetisch zu behandeln oder zerschmetterte Knochenteile und Kallus zu entfernen, wurden nicht unternommen. Bei jeder Sitzung schüttelte der Arzt wiederholt den Kopf, sog den Atem durch die Zähne ein und murmelte leise vor sich hin, so als wollte er ihn für die Beteiligung an dieser sinnlosen Gewalttätigkeit tadeln.
Die japanischen Wärter hatten Anweisung, kein Wort mit dem Gefangenen zu reden; während der ersten Tage war es jedoch notwendig, ihm die grundlegenden Verhaltensvorschriften beizubringen. Wenn sie dann mit ihm sprechen mussten, benutzten sie stets barsche Imperative und einen scharfen Stakkatoton, der nicht auf persönlicher Antipathie beruhte, sondern lediglich die unüberbrückbare Kluft zwischen Gefangenem und Wärter zum Ausdruck brachte. Sobald die Routine sich eingespielt hatte, sprachen sie nicht mehr mit ihm, und so hörte er während des größten Teils der folgenden drei Jahre keine andere menschliche Stimme als seine eigene – abgesehen von einer halben Stunde pro Vierteljahr, wenn er Besuch von einem untergeordneten Gefängnisbeamten bekam, der für das leibliche und psychische Wohlergehen der Häftlinge verantwortlich war. Beinahe ein Monat verging, bis die letzten Nachwirkungen der Drogen in seinem Verstand und seinen Nerven abklangen, und erst dann konnte er es wagen, in seiner Wachsamkeit vor unerwarteten Rückfällen in Albträume voller Raum-Zeit-Verzerrungen ein wenig nachzulassen, die ihn hinterrücks überfielen und in den Wahnsinn trieben, bis er keuchend und schwitzend in einer Ecke seiner kleinen Zelle hockte, des letzten Restes an Kraft beraubt und halb verrückt vor irrsinniger Angst, der seinem Geist zugefügte Schaden könne am Ende unheilbar sein.
Es gab im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Hel, Nikolai Alexandrowitsch ( TA /737804) keinerlei Nachforschungen. Es gab keine Bemühungen, ihn zu befreien oder seinen Prozess zu beschleunigen. Er war staatenlos; er besaß keine Papiere; kein Konsulatsbeamter kam, um seine Bürgerrechte zu vertreten.
Die einzige kleine Bewegung, die Nikolai Hels Verschwinden im zähen Fluss der Routine erzeugte, war ein kurzer Besuch von Frau Shimura und Herrn Watanabe im San-Shin-Gebäude einige Wochen nach seiner Verhaftung. Die beiden hatten nächtelang flüsternd miteinander beraten und endlich ihren ganzen Mut zusammengenommen, um diese hoffnungslose Geste im Dienste ihres Wohltäters zu machen. An einen unbedeutenden Beamten abgeschoben, brachten sie ihre Fragen mit leiser Stimme, in hastigen Worten und unter zahllosen Beweisen schüchterner Demut vor. Frau Shimura übernahm das
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