Shibumi: Thriller (German Edition)
Reden, während Herr Watanabe sich nur verbeugte und angesichts der unberechenbaren Gewalt der Besatzungsmächte und ihres unergründlichen Verhaltens den Blick gesenkt hielt. Sie wussten genau, dass sie mit diesem Besuch in der Höhle des Löwen, bei den Amerikanern, ihr Heim und das bisschen Sicherheit, das Nikolai ihnen geschenkt hatte, aufs Spiel setzten; Ehrgefühl und Redlichkeit befahlen ihnen jedoch, das Risiko einzugehen.
Die einzige Folge dieser zaghaften, ängstlichen Nachfragen war der Besuch eines Trupps Militärpolizei im Asakusa-Haus, der dort nach Beweisen für Nikolais Verbrechen fahndete. Im Verlauf dieser Suche beschlagnahmte der Einsatzleiter als wichtiges Beweismittel Nikolais kleine Sammlung von Kiyonobu- und Sharaku-Drucken, die er erstanden hatte, wann immer er es sich leisten konnte, voller Betrübnis darüber, dass ihre Besitzer durch die wirtschaftliche und moralische Anarchie der Besatzung gezwungen waren, sich von diesen Schätzen zu trennen, und begierig, das Seine zu tun, um sie vor dem Zugriff der Barbaren zu schützen.
Wie sich herausstellte, übten diese Drucke einen gewissen Einfluss auf den Niedergang der gleichmacherischen Kunst Amerikas aus. Der Offizier, der sie beschlagnahmt hatte, schickte sie nach Hause, wo sein geistig minderbemittelter Sohn die freien Flächen prompt mit Buntstiften ausmalte und sich dabei so genial innerhalb der vorgegebenen Linien hielt, dass die liebevolle Mutter in ihrer Überzeugung von der Kreativität des Kindes bestärkt wurde und seine Erziehung auf die Kunst ausrichtete. Dieser begabte Knabe wurde später aufgrund seiner mechanischen Präzision bei der Darstellung von Konservendosen ein führender Künstler der Pop-Art-Szene.
Während seiner dreijährigen Gefangenschaft wartete Nikolai unausgesetzt auf seinen Prozess wegen Spionage und Mord, doch nie wurde ein Verfahren gegen ihn eingeleitet; er wurde weder vor Gericht gestellt noch verurteilt und kam daher auch nicht in den Genuss jener spartanischen Privilegien, deren sich die übrigen Häftlinge erfreuen durften. Die japanischen Verwalter des Sugamo-Gefängnisses standen vollkommen unter der Fuchtel der Besatzer und hielten Nikolai in Isolierhaft, weil man es ihnen befohlen hatte – obwohl er eine unliebsame Ausnahme in ihrem strikten Organisationssystem darstellte. Er war der einzige Insasse, der kein Japaner war, der Einzige, den man nicht verurteilt hatte, und der Einzige, der in Isolierhaft saß, ohne gegen die Gefängnisvorschriften verstoßen zu haben. Er wäre eine höchst lästige Verwaltungsanomalie gewesen, hätten die Verantwortlichen ihn nicht behandelt, wie Verwaltungsbeamte alle Manifestationen störender Individualität behandeln: Sie ignorierten ihn. Sobald er nicht mehr von den plötzlichen Anfällen der Drogenpanik heimgesucht wurde, begann sich Nikolai an die Routine und den unveränderlichen Rhythmus seines isolierten Daseins zu gewöhnen. Seine Zelle war ein fensterloser, zwei Quadratmeter großer Raum aus grauem Beton mit einer Lampe, die in die Decke eingelassen und mit dickem, bruchsicherem Glas geschützt war. Das Licht brannte Tag und Nacht. Zuerst hasste Nikolai diese ununterbrochene Helligkeit, die es ihm nicht gestattete, sich in den Schutz des Dunkels zurückzuziehen, und die ihn nur unruhig schlafen ließ. Doch als im späteren Verlauf seiner Gefangenschaft dreimal die Birne ausbrannte und er in völliger Finsternis leben musste, bis der Wärter es bemerkte, wurde ihm klar, dass er sich so an die ständige Beleuchtung gewöhnt hatte, dass die absolute Dunkelheit, die sich wie ein lastendes Gewicht auf ihn zu legen schien, ihm Angst einflößte. Die drei Besuche eines Kalfaktors, der unter strenger Aufsicht des Wärters die Birne auswechseln musste, waren die einzigen Ereignisse, welche die etablierte, zuverlässige Routine von Nikolais Leben unterbrachen, das heißt, bis auf einen kurzen Stromausfall, der in seinem zweiten Jahr im Gefängnis mitten in der Nacht auftrat. Die unvermittelte Dunkelheit ließ Nikolai aus dem Schlaf hochfahren, und er saß, in die Finsternis starrend, regungslos auf dem Rand seiner Stahlpritsche, bis das Licht wieder anging und er endlich weiterschlafen konnte.
Abgesehen von dem Licht besaß der frisch gestrichene, graue Würfel, in dem Nikolai leben musste, nur noch drei Merkmale: das Bett, die Tür und die Toilette. Das Bett bestand aus einer schmalen, in die Wand eingelassenen Eisenplatte, deren Beine im Betonboden verankert
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