Shibumi: Thriller (German Edition)
Folge, dass er jedes Gefühl ungeheuer intensiv wahrnahm. Seine Haut war so empfindlich, dass schon die Berührung seiner Kleider schmerzte, und die Luft, die er einatmete, löste ein Stechen in den Nasenlöchern aus. In diesem hypertaktilen Zustand waren die Qualen der Folter unbeschreiblich. Er sehnte sich nach Bewusstlosigkeit, doch der Sergeant war so geschickt, dass er ihm niemals diese barmherzige Ausflucht gewährte.
Die dritte Sitzung war nicht so schmerzhaft, dafür aber umso beängstigender. Bei absoluter, doch krankhafter geistiger Klarheit war Nikolai gleichzeitig Empfänger und Beobachter der Schläge. Wiederum war er Zuschauer und Schauspieler, und er betrachtete das, was geschah, mit nur sehr geringem Interesse. Er fühlte nichts; die Drogen hatten seine Nerven kurzgeschlossen. Das Entsetzliche lag in der Tatsache, dass er die Schläge hören konnte, als würde das Geräusch durch empfindliche Mikrofone in seinem Fleisch verstärkt. Er hörte das scharfe Reißen des Gewebes; er hörte das trockene Platzen der Haut; er hörte das körnige Knirschen brechender Knochen; er hörte das beschleunigte Pulsieren seines Blutes. Im Spiegel des Spiegels seines Bewusstseins empfand er gelassenes Entsetzen. Ihm war klar, dass es krankhaft war, all dies zu hören, während er überhaupt nichts fühlte, und solch eine anästhetische Indifferenz diesem Geschehen gegenüber zu empfinden ging über die Grenze zum Wahnsinn hinaus.
Einmal trieb sein Verstand an die Oberfläche der Realität; da erklärte er dem Major, er sei Kishikawas Sohn, und es sei ein grober Fehler, ihn nicht zu töten, denn wenn er am Leben bliebe, könne der Major ihm nicht entkommen. Er sprach breiig; seine Zunge war von den Drogen geschwollen, seine Lippen waren von den Schlägen geplatzt; doch seine Schergen hätten ihn ohnehin nicht verstanden: Er hatte unbewusst Französisch gesprochen.
Mehrmals während des dreitägigen Verhörs wurden ihm die Handschellen, die seine Hände auf dem Rücken festhielten, abgenommen. Der Arzt stellte fest, dass seine Finger schneeweiß und eiskalt waren, weil das Blut nicht in ihnen zirkulieren konnte; deswegen nahm man ihm für einige Minuten die Fesseln ab, massierte die Druckstellen und legte ihm die Eisen dann wieder an. Sein Leben lang trug Nikolai als Andenken an diese Fesseln bräunliche Narbenarmbänder.
In der dreiundsiebzigsten Stunde unterschrieb Nikolai, ohne zu wissen, was er tat, und auch ohne sich dafür zu interessieren, das Geständnis, das die Russen belastete. So sehr war er der Realität entrückt, dass er mit japanischen Schriftzeichen quer über die ganze Seite schrieb, obwohl man versucht hatte, seine zitternde Hand an den unteren Rand zu führen. Dadurch war das Geständnis wertlos, und die Amerikaner sahen sich schließlich gezwungen, seine Unterschrift zu fälschen, was sie natürlich von Anfang an hätten tun können.
Was mit diesem »Geständnis« schließlich geschah, verdient es, als Beispiel geheimdienstlicher Stümperei festgehalten zu werden. Einige Monate später, als die amerikanischen Sphinx-Leute es für opportun hielten, ihren russischen Gegenspielern einen Warnschuss vor den Bug zu setzen, wurde Gorbatow das Dokument von Major Diamond persönlich vorgelegt, der dem Oberst schweigend am Schreibtisch gegenübersaß und dessen Reaktion auf diesen vernichtenden Beweis der russischen Spionagetätigkeit abwartete.
Der Oberst überflog die Seiten mit gut gespielter Gleichgültigkeit; dann löste er seine runde Stahlbrille von den Ohren und polierte sie mit entnervender Gründlichkeit zwischen Daumen und Zeigefinger, bevor er sie wieder hinter die Ohren hakte. Mit der Unterseite seines Löffels zerdrückte er dann das Stückchen Zucker in seiner Teetasse, trank einen großen Schluck und stellte die Tasse in die Untertasse zurück.
»Na und?«, sagte er träge.
Das war alles. Die drohende Geste war gemacht und ignoriert worden und hatte nicht die geringste Wirkung auf die geheimen Aktivitäten der beiden Großmächte in Japan gezeitigt.
Für Nikolai verschwammen die letzten Stunden des Verhörs in verwirrenden, aber nicht unangenehmen Träumen. Sein Nervensystem war so zerrüttet, dass es nur minimal funktionierte, und sein Verstand hatte sich in sich selbst zurückgezogen. Er glitt von einer Stufe der Irrealität zur anderen hinüber, und alsbald sah er sich am Ufer des Kajikawa in einem Regen von Kirschblüten dahinwandern. Neben ihm, doch so weit von ihm entfernt, dass
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