Shimmer
sehe?«, fragte Mildred.
»Ja. Und für den Fall, dass Sie je wieder Angst haben«, antwortete Sam.
Mildred lächelte erneut. »Und wo soll ich das Ding aufladen?«
Sie war wirklich nicht auf den Kopf gefallen.
»Ich könnte es im Büro aufladen«, sagte Sam.
»Ich nehme an, oft werde ich es nicht benutzen.«
»Wir könnten dafür sorgen, dass es alle paar Tage abgeholt wird.«
»Das würde bedeuten, dass Sie wissen müssten, wo ich bin.«
»Das ist richtig«, stimmte Sam ihr zu. »Jedenfalls manchmal.«
Mildred dachte einen Augenblick darüber nach.
»Ich glaube«, sagte sie schließlich, »damit könnte ich leben, Samuel.«
8
»Ich wünschte«, sagte Grace gegen Abend, »du würdest mir erzählen, was passiert ist.«
»Das habe ich dir doch gesagt«, erwiderte Claudia. »Ich brauche einfach mal ’ne Pause.«
»Und?«
»Und ich wollte meine Schwester und ihre Familie sehen.«
»Wir freuen uns ja auch, dich zu sehen«, sagte Grace. »Zumindest würde Sam sich freuen, wenn er hier wäre.«
Das Baby schlief oben im Kinderzimmer, und die beiden Frauen saßen wieder in der Küche. Draußen tobte das Unwetter, das sich bereits den ganzen Nachmittag angekündigt hatte. Der stürmische Wind zerrte an den Palmen und Blumen, und der Regen tränkte das Land mit Wasser, doch hier in der Küche köchelte ein aromatischer Fischeintopf auf dem Herd, und die beiden Schwestern saßen an dem großen alten Eichentisch, nippten an gutem Chianti und aßen Oliven. Abgesehen von dem Laufstall in der Ecke, den im Zimmer verteilten Spielsachen und der Hundeklappe, die letztes Jahr eingebaut worden war, als Woody an einer Blasenentzündung litt, hatte sich hier seit Claudias letztem Besuch nur wenig verändert. Es war noch immer ein Raum, der ein warmes, heimeliges Gefühl vermittelte. Warmes Holz und Kupferpfannen, bequeme, dicke Kissen auf den Stühlen, Familienfotos an den Wänden.
Heute Abend waren die beiden Schwestern allein. Sam arbeitete an dem neuen Fall. Grace hatte darüber nachgedacht, David und Saul zu bitten, sich zu ihnen zu gesellen. Der Freitag war der traditionelle Familienabend bei den Beckets. Dann wurden die Sabbatkerzen entzündet, ein Brauch, den Sam liebte, seit David und Judy Becket ihn im Alter von sieben Jahren aus seinem Elend erlöst und adoptiert hatten. Dann aber war Grace zu dem Schluss gelangt, dass solch ein Abend Claudia die perfekte Ausrede verschaffen würde, sich nicht zu öffnen – und genau das durfte nicht geschehen, wie Grace wusste.
Beide hatten geduscht und sich umgezogen. Grace trug ein langes blassblaues Baumwoll-T-Shirt. Claudia hatte sich ein bequemes hellbraunes Leinenkleid übergestreift. Ihre Füße waren nackt, die Zehen passend zu den Fingernägeln lackiert. Grace konnte sich kaum daran erinnern, wann sie zum letzten Mal auch nur an eine Pediküre gedacht hatte.
»Wir haben immer alles miteinander geteilt«, sagte Grace, »ob gut oder schlecht.«
»Das tun wir immer noch«, erwiderte Claudia, »nur eben nicht alles.«
»Natürlich nicht«, sagte Grace.
Claudia trank einen Schluck Wein.
»Aber wenn du nicht mit mir redest«, erklärte Grace, »kann ich dir auch nicht helfen.«
»Ich kann aber nicht mit dir reden«, entgegnete Claudia, »wenn ich noch nicht bereit dazu bin.«
»Okay«, sagte Grace. »Wir haben Zeit.«
Claudia stellte ihr Glas auf den Tisch und setzte sich gerade hin.
»Ich habe Mist gebaut«, sagte sie. »Großen Mist.«
Grace schwieg.
»Mein Leben ist ein einziger Scherbenhaufen, und das ist allein meine Schuld«, fuhr Claudia fort. »Und ich weiß, dass ich dir alles sagen kann und dass ich kein Recht habe, einfach so vor deiner Tür aufzutauchen, ohne vorher Bescheid zu sagen ...«
»Jeder hat ein Recht auf Privatsphäre, aber du bist meine Schwester, Herrgott noch mal«, sagte Grace.
»So spricht ein wahrer Seelenklempner«, erwiderte Claudia trocken.
»Tut mir leid.«
»Vielleicht ist ein Seelenklempner ja genau das, was ich brauche.«
»Geht mir ähnlich«, sagte Grace und erntete dafür ein mattes Lächeln.
»Aber nicht heute Abend«, sagte Claudia.
9
7. Juni
Um drei Uhr morgens am Samstag, als der Sturm weitergezogen war und die Sterne am Himmel funkelten, hatte Cal sich in seinem Zimmer verkrochen.
Die paar lausigen Quadratmeter in diesem Rattenloch waren alles, was er sich im Augenblick leisten konnte.
Dabei war es noch nicht mal ein richtiges Rattenloch. Dieses Zimmer, dessen Besitzer – ein Kerl, der in
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