Shimmer
Verwirrung wuchs von Augenblick zu Augenblick, denn so etwas passierte nur öffentlichen Personen, zum Beispiel Filmstars, nicht aber Vorstadtehefrauen. Außerdem – wer sollte Claudia so etwas antun? Oder Daniel?
»Das Schlimmste kommt noch«, sagte Claudia. »Je nachdem, wie man es sieht.«
Grace wartete.
»Der Erpresser war Jerome Cooper.«
Grace starrte sie an. »Der Sohn von Roxanne?«
Claudia nickte, und ihre Wangen wurden dunkelrot. »Unser Stiefbruder.«
Grace konnte nicht mehr klar denken. Das war ein Tropfen zu viel: Das Fass war übergelaufen, und in ihrem Verstand herrschte Chaos. Sie hatte Jerome Cooper nie als ihren Stiefbruder betrachtet ... tatsächlich hatte sie kaum einmal an ihn gedacht.
Jerome Cooper. Der Sohn von Roxanne Cooper, die Claudias und Grace’ Vater im Jahr 2000 geheiratet hatte, zwei Jahre nach dem Tod ihrer Mutter.
Die beiden Schwestern waren damals erleichtert gewesen, nicht zur Hochzeit eingeladen worden zu sein. Sie hatten von der Heirat überhaupt nur erfahren, weil ihnen irgendjemand (sie wussten nicht wer, und es war ihnen auch egal) Fotokopien der Hochzeitsanzeige im Melrose Park Journal geschickt hatte, dazu ein Hochzeitsfoto. Darauf war eine Frau mittleren Alters in engem weißem Hosenanzug zu sehen. An die verstorbene Mutter erinnerte nur das blonde Haar, auch wenn es – da war Grace sich aufgrund des Fotos ziemlich sicher gewesen – auf eine Tönung zurückzuführen war. Sie stand zwischen ihrem neuen Mann, Frank Lucca, und einem grinsenden Jungen von ungefähr sechzehn Jahren. Später war dann eine mit »Roxy, Frank und Jerome« unterschriebene Weihnachtskarte gekommen, die zugleich eine Umzugsmitteilung gewesen war – die Luccas wohnten noch immer in Melrose Park, allerdings in einer Straße ungefähr zwei Kilometer vom alten Haus entfernt. Claudia hatte auf diese Karte geantwortet, Grace jedoch nicht. Jedenfalls hatte es seitdem keinerlei Kontakt mehr gegeben.
Inzwischen war es mehr als sieben Jahre her, seit die beiden Schwestern Frank zum letzten Mal gesehen hatten. Und was Grace betraf, bereute sie es nicht.
»Aber wie hat Jerome das von dir und diesem Mann herausfinden können?«, fragte sie nun.
Soweit sie wusste, lebte Frank Luccas Stiefsohn in der Nähe von Chicago, mehr als dreitausend Kilometer von Seattle entfernt.
»Er muss mir gefolgt sein.« Claudia hielt kurz inne. »Er war schon einmal auf Bainbridge Island.«
»Was sagst du da?«
»Vergangenen Herbst stand er plötzlich auf unserer Türschwelle und wollte Geld.« Claudia schüttelte den Kopf bei der Erinnerung. »›Ich bin Jerry‹, hat er gesagt, ›Roxys Junge‹. Er hat so ein richtig unehrliches, hässliches Lächeln.«
»Davon hast du mir nie ein Wort erzählt.« Grace war wie vor den Kopf geschlagen.
»Ich war gerade erst von meinem Besuch bei euch zurückgekommen.« Claudia war kurz nach Joshuas Geburt nach Florida geflogen und eine Zeitlang dort geblieben, um zu helfen. »Ihr hattet so viel durchgemacht, da wollte ich euch nicht noch zusätzlich belasten.«
»Und später?«, fragte Grace. »Warum hast du es mir dann nicht erzählt?«
Sie schaute in den Laufstall und verspürte das heftige Verlangen, ihren Sohn herauszuheben, doch Joshua war sichtlich zufrieden mit sich selbst, und ihre Schwester brauchte im Augenblick deutlich mehr Aufmerksamkeit; also blieb Grace auf dem Sofa sitzen.
»Weil ich wusste, dass es dich wütend machen würde«, antwortete Claudia. »Außerdem wollte ich es aus dem Kopf haben. Dan hat gesehen, wie aufgeregt ich war, und hat gesagt, wenn der Kerl wirklich so sehr in Schwierigkeiten stecke, könnten wir ihm ja fünfhundert Dollar geben; schließlich gehöre er in gewissem Sinne zur Familie. Aber er hat Jerome gebeten, ihm eine Quittung zu geben. Das hat er dann auch gemacht und erklärt, wie dankbar er uns sei und dass er uns nie wieder um etwas bitten werde.«
»Und hat er auch gesagt, wozu er das Geld gebraucht hat?«, fragte Grace.
»Er hat gesagt, seine Mom und Frank würden eine schwere Zeit durchmachen.« Wieder hielt Claudia kurz inne. »Er hat gesagt, wir würden ihm etwas schulden ... du und ich.«
»Wie kommt er denn darauf?«, hakte Grace nach.
»Wenn Daniel und ich ihn richtig verstanden haben, glaubt er, wären wir nicht von zu Hause weggelaufen, hätte Papa nicht den Laden schließen und das alte Haus verkaufen müssen, als er Roxanne geheiratet hat. Dann wäre alles viel leichter gewesen.«
»Ja. Dann würden wir jetzt zu
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