Shimmer
Warum habe ich so selbstzerstörerisch gehandelt? Warum habe ich mich überhaupt mit Kevin eingelassen?«
Joshua war wieder zufrieden. Er nuckelte an seiner Rassel und wedelte mit den Ärmchen.
Von Grace’ Verzweiflung war nichts mehr übrig.
»Warst du wirklich so unglücklich?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete Claudia. »Ich glaube schon.«
19
8. Juni
Die Explosion zerriss das Boot in tausend brennende Fragmente, die hoch in den tintenschwarzen Himmel schossen und dann anmutig herabschwebten wie glühende Schneeflocken.
In mehr als fünfhundert Metern Umkreis war die Wucht der Explosion zu spüren, doch ihr Nachhall reichte noch viel weiter, durch ganz Miami Beach, sogar bis nach Miami hinein. Viele Leute wurden geweckt; viele waren beunruhigt, und viele griffen nach den Fernbedienungen ihrer Fernseher, um sich die neuesten Nachrichten anzuschauen.
Grace saß am Sonntag um vier Uhr morgens im Kinderzimmer. Sie war bereits wach, weil das Baby vor zwanzig Minuten zu weinen angefangen hatte. Seit Joshua wieder eingeschlafen war, hatte Grace darüber nachgedacht, warum sie und Claudia zu Inselbewohnern geworden waren. Hatten sie unterbewusst ein übertriebenes Schutzbedürfnis entwickelt? Betrachteten sie das Meer, das die Inseln umschloss, als eine Art Burggraben zum Schutz vor ihrer düsteren Vergangenheit?
Der Knall der Explosion riss Grace aus ihren Gedanken. Woody bellte los, und das Baby fing wieder zu weinen an.
»Was war das?« Claudia stand in ihrem cremefarbenen Seidenpyjama in der Tür. Auf ihrem Gesicht zeigte sich nicht das geringste Schlafbedürfnis.
»Alles in Ordnung bei euch?« Nun erschien auch Sam. Rasch hatte er sich seine Shorts übergestreift. Woody, der sich wieder beruhigt hatte, trottete hinter ihm her.
»Alles in Ordnung«, antwortete Grace. »Ist schon gut, Joshua, Liebling.«
»Das klang verdammt nah«, bemerkte Claudia.
»Vermutlich war es das aber nicht.« Sam kam ins Zimmer, hockte sich neben den Stuhl, küsste Grace auf die Wange und streichelte dem Baby über das dünne Haar. »Es ist alles in Ordnung, mein Sohn, alles okay.«
Joshuas Weinen ebbte bereits wieder ab. Es war nun quengelig vor Müdigkeit. Grace reichte ihn Sam, denn er konnte den Jungen oft schneller beruhigen als sie. Manchmal sang er ihm leise in seinem schönen Bariton vor, der ihm schon Solorollen in der S-BOP verschafft hatte, der South Beach Opera, und offensichtlich mochte Joshua Daddys Stimme.
»Glaubst du, das war eine Bombe?«, fragte Claudia.
»Eher eine Gasexplosion«, antwortete Sam.
Grace schaute ihn an. Sie hatte das Gefühl, als glaubte Sam nicht wirklich daran, was er sagte, doch sie schwieg. Vielleicht zog sie die Unwissenheit vor – zumindest im Augenblick –, weil sie einen kleinen Sohn hatten, den sie in sicherer Umgebung großziehen wollten, und die Vorstellung von Bombenanschlägen war zu schrecklich.
»Zauberhände«, bemerkte Claudia und schaute Joshua an, der in den Armen seines Vaters bereits wieder einschlief. »Unsere beiden waren bei Daniel auch immer so.«
»Ich kann mich noch gut erinnern.« Grace sah die Trauer in den Augen ihrer Schwester, und sie fühlte mit ihr.
Vorsichtig legte Sam das Baby wieder ins Bettchen neben seinen Lieblingsteddy. »Hat jemand Lust auf eine Tasse Tee?«, fragte er.
»Solange es Kamille ist«, sagte Grace.
Claudia verzog das Gesicht. »Ich hasse dieses Zeug. Ich schalte lieber mal die Nachrichten ein.«
»Warum versuchst du nicht wieder zu schlafen?«, schlug Grace vor.
»Nach der Knallerei?«, erwiderte Claudia. »Keine Chance.«
20
Cal kauerte nackt auf seiner dünnen, zerschlissenen Matratze, aß Käseringe und versuchte, nicht zu krümeln. Dabei sah er sich die Nachrichten auf dem kleinen Schwarzweißfernseher an, von dem sein Arsch von »Vermieter« vermutlich glaube, er verwandle dieses Drecksloch in eine Rattenhöhle de luxe.
Leute sagen zu hören, ein Boot sei explodiert, und zu sehen, wie die Laufschrift unter dem Bild dies bestätigte, machte Cal nervöser als das merkwürdige Geräusch, das ihn aus seinem unruhigen Schlaf gerissen hatte, oder auch der kleine Schock zwei Stunden zuvor, als sein Handy plötzlich geklingelt hatte. Ausgerechnet diese Nacht hatte Jewel sich ausgesucht, um ihn anzurufen, nachdem sie wochenlang geschwiegen hatte.
Hexe.
»Ich nehme nicht an, dass du wieder zurückkommen kannst, wann du willst«, hatte sie zu ihm gesagt. »Dafür hast du dich wohl schon zu lange
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