Shining
konnte, ehe sie völlig auseinanderbrach. Er würde das Buch schreiben.
Wenn es das Ende seiner Freundschaft mit Al bedeutete, ließ es sich eben nicht ändern. Er würde die Biographie des Hotels schreiben, ohne etwas zu beschönigen, und in der Einleitung würde er von seiner Halluzination berichten, wie sich die Heckentiere bewegt hatten. Der Titel, den er ins Auge gefasst hatte, klang vielleicht nicht nach Geistesblitz, aber als Arbeitstitel mochte er hinreichen: Ein seltsamer Ort, die Geschichte des Overlook Hotels. Gewiss, er wollte nichts beschönigen, aber rachsüchtige Gefühle sollten in dem Buch keinen Niederschlag finden. Er dachte nicht daran, es Stuart Ullman, George Hatfield oder seinem eigenen Vater (diesem widerlichen und brutalen alten Trunkenbold) heimzuzahlen. Auch sonst niemandem. Er würde das Buch schreiben, weil das Overlook ihn faszinierte – gab es eine einfachere oder ehrlichere Erklärung? Er würde es aus dem einzigen Grund schreiben, aus dem je große Literatur entstand, ob Dichtung oder Sachbuch: Die Wahrheit kommt an den Tag. Früher oder später. Er würde es schreiben, weil er es schreiben musste. Fünfhundert Gallonen Vollmilch. Hundert Gallonen Magermilch. Bezahlt.
Abgebucht. Hundertfünfzig Liter Orangensaft. Bezahlt.
Er ließ sich tiefer in den Sessel gleiten und hielt immer noch ein Bündel Rechnungen in der Hand, aber seine Augen sahen nicht mehr das Gedruckte. Sie starrten ins Leere. Nur langsam bewegten sich seine Lider und wurden immer schwerer. Seine Gedanken lösten sich vom Overlook, und plötzlich dachte er an seinen Vater, der im Gemeindehospital in Berlin Pfleger gewesen war. Ein hochgewachsener Mann. Ein fetter Kerl von über einsneunzig. Er war auch dann noch größer, als Jack seine Endgröße von einsdreiundachtzig erreicht hatte – natürlich war der alte Mann zu der Zeit schon tot. »Du bist der Zwerg aus dem ganzen Wurf«, pflegte der Alte zu sagen, wobei er lachte und Jack in die Rippen stieß. Es hatte noch zwei weitere Brüder gegeben, die größer als ihr Vater waren, und dann war da noch Becky, nur fünf Zentimeter kleiner als Jack, obwohl sie als Kind immer größer gewesen war als er.
Jacks Beziehungen zu seinem Vater hatte sich wie eine schöne Blume entwickelt, die, als sie voll erblüht war, das böse Gift in ihrem Blütenkelch zum Vorschein kommen ließ. Bis er sieben Jahre alt war, hatte er diesen fettleibigen Mann unkritisch geliebt, und das trotz aller Prügel und eines gelegentlichen blauen Auges.
Er erinnerte sich an samtene Sommerabende, das Haus war ruhig, der älteste Bruder Brett mit seinem Mädchen ausgegangen, der mittlere Bruder Mike las irgend etwas, Becky saß mit Mutter im Wohnzimmer vor dem altersschwachen Fernsehgerät; und er selbst saß, nur mit seiner Pyjamajacke bekleidet, auf dem Flur und tat so, als spielte er mit seinen Autos. In Wirklichkeit wartete er darauf, dass die Tür aufgerissen wurde und sein Vater ihn lautstark begrüßte. Wie deutlich hatte Jack das Bild vor sich: Der große Mann, dessen rosige Kopfhaut unter dem Bürstenhaarschnitt zu sehen war, trug, wenn er nach Hause kam, meistens noch seine Berufskleidung und sah in seinem weißen Kittel wie ein überdimensionales Gespenst aus. Sein Hemd, das manchmal blutbespritzt war, trug er ständig offen, und die Aufschläge seiner zu langen Hose fielen über seine schwarzen Schuhe.
Sein Vater nahm ihn dann auf und warf ihn hoch in die Luft, so schnell, dass er am Kopf den Luftdruck zu spüren glaubte, und dabei schrien beide »Fahrstuhl! Fahrstuhl!« Aber es hatte auch Abende gegeben, da sein Vater ihn in seinem Suff zwar hochgeworfen, aber nicht wieder aufgefangen hatte, so dass er hinter seinem Vater auf dem Fußboden landete. Manchmal schüttelte sein Vater ihn nur, und Jack roch dann den Bierdunst in seinem Atem.
Die Quittungen glitten ihm aus der Hand und segelten durch die Luft, um träge auf dem Fußboden zu landen; hinter seinen nun geschlossenen Lidern hatte er das Bild seines Vaters vor Augen. Er gab sich einen Ruck und hob die Lider, aber wie die Quittungen oder wie fallende Blätter segelte auch sein Bewusstsein langsam davon.
Das war die erste Phase seiner Beziehung zu seinem Vater gewesen, und als sie endete, erkannte er, dass Becky und seine Brüder, die alle älter waren, den Vater hassten, und dass seine Mutter, eine schwer einzuordnende Frau, die selten laut sprach, ihn nur deshalb noch ertrug, weil ihre katholische Erziehung ihr das vorschrieb.
Weitere Kostenlose Bücher