Shining
Haar hing ihr ins geschwollene und blutende Gesicht. Mike rief den Arzt an und brabbelte irgend etwas in die Muschel. Ob er sofort kommen könne? Es handele sich um ihre Mutter. Nein, er könne nicht sagen, was los sei. Nicht am Gemeinschaftstelefon. Er müsse aber kommen. Der Doktor kam und brachte Mommy in das Krankenhaus, in dem Daddy sein ganzes Leben lang gearbeitet hatte. Daddy, inzwischen ein wenig ernüchtert (oder vielleicht nur mit der List eines in die Enge getriebenen Tieres), erzählte dem Arzt, sie sei die Treppe hinuntergefallen. Das Tischtuch war blutig, denn er hatte versucht, ihr damit das Gesicht abzuwischen. Und war ihre Brille ganz durch das Wohnzimmer ins Esszimmer geflogen, um auf dem Kartoffelbrei und der Soße zu landen? fragte der Arzt mit einem schrecklichen sarkastischen Grinsen. War es tatsächlich so, Mark? Ich habe von Leuten gehört, die mit ihren Goldplomben Radiosender empfangen können, und ich habe einen Mann gesehen, dem man zwischen die Augen geschossen hatte und der überlebte und darüber berichten konnte, aber dies hier ist neu für mich. Aber Daddy hatte nur den Kopf geschüttelt und gesagt, er wisse von nichts; sie musste die Brille verloren haben, als er sie durch das Esszimmer trug. Angesichts der Ungeheuerlichkeit dieser Lüge standen die vier Kinder schweigend und wie benommen daneben. Vier Tage später gab Brett seinen Job in der Fabrik auf und ging zur Armee. Jack hatte immer empfunden, dass er es nicht nur wegen der plötzlichen, sinnlosen Prügel getan hatte, die der Vater bei Tisch verabreicht hatte, sondern auch deshalb, weil Mutter im Krankenhaus Vaters Geschichte bestätigt hatte, während der Gemeindepfarrer ihr die Hand hielt. Angewidert hatte Brett sie ihrem Schicksal überlassen. 1965 war er in der Provinz Dong Ho gefallen. Zu der Zeit hatte Jack gerade angefangen zu studieren, und er beteiligte sich aktiv an Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg. Bei den Aufmärschen mit ständig wachsender Teilnehmerzahl schwenkte er das blutige Hemd seines Bruders, aber wenn er sprach, hatte er nicht Bretts Gesicht vor Augen – es war das Gesicht seiner Mutter, ihr bestürztes, verständnisloses Gesicht, und er hörte sie fragen: »Wer hat die Zeitung?«
Mike verschwand drei Jahre später, als Jack zwölf war – mit einem reichlich bemessenen Stipendium ausgestattet, nahm er sein Studium auf. Ein Jahr später starb Jacks Vater plötzlich an einem Schlaganfall, der ihn ereilte, als er gerade einen Patienten für die Operation vorbereitete. Er war in seiner weißen Hospitalkleidung zusammengebrochen und möglicherweise schon tot gewesen, bevor er auf den schwarzroten Krankenhausfliesen aufschlug. Drei Tage später lag der Mann, der Jacks Leben bestimmt hatte, dieser weiße Geistergott, unter der Erde.
Auf dem Grabstein stand Unser lieber Vater Mark Antony Torrance.
Dem hätte Jack eine Zeile hinzufügen können: Er konnte gut Fahrstuhl spielen.
Es hatte eine Menge Geld von der Versicherung gegeben. Es gibt Leute, die Versicherungen sammeln wie andere Münzen oder Briefmarken, und so ein Typ war Mark Torrance gewesen. Das Versicherungsgeld traf ein, und die Beitragszahlungen hörten auf, und es kamen auch keine Schnapsrechnungen mehr ins Haus. Fünf Jahre lang waren sie reich gewesen. Fast reich …
In seinem leichten, unruhigen Schlaf sah er sein Gesicht wie in einem Spiegel vor sich, nicht das Gesicht seines Vaters, sondern sein eigenes, die großen Augen und den unschuldig verzerrten Mund eines kleinen Jungen, der auf dem Flur mit seinen Autos spielt und auf seinen Daddy wartet, auf den weißen Geistergott wartet, auf den Fahrstuhl wartet, in dem er eine schwindelerregende Fahrt antreten würde durch den Salz- und Sägemehldunst der ausgeatmeten Kneipenluft, immer in der Angst, krachend auf dem Fußboden zu landen, wobei ihm dann zerbrochene Uhrfedern aus den Ohren quellen würden, während sein Vater vor Lachen brüllte, und es
(verwandelte sich in Dannys Gesicht, das so ähnlich aussah wie früher sein eigenes, wenn auch seine Augen blau waren und Dannys wolkengrau, aber auch Dannys Mund war verzerrt und seine Gesichtsfarbe hell; er sah Danny in Trainingshosen in seinem Arbeitszimmer, alle seine Papiere durchweicht, und wie ein Nebel der Bierdunst … dann schrecklicher Lärm, alles in Gärung, auf Hefeschwingen, der Atem der Tavernen … das Knacken von Knochen … seine eigene Stimme … trunkenes Gejammer, Danny, ist alles in Ordnung, Doc? … Oh Gott, oh
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