Shiver - Meine Rache Wird Euch Treffen
freigelassen. Wie immer, wenn seine Mutter, nach Alkohol stinkend, endlich zu dem Schluss kam, dass er hart genug bestraft worden war. Dann weinte sie jedes Mal und bat ihn um Vergebung, badete ihn, bot ihmneue Kleider, ein teures Spielzeug an und küsste ihn … überall … während sie mit sanfter Hand die Blutergüsse und Schnittwunden versorgte, die seinen Körper übersäten, die Resultate seiner Befreiungsversuche.
Dann war sie zärtlich, streichelte ihn liebevoll, versicherte ihm, dass er, wenn er seine Sünden bereute und Buße tat, Gnade vor Gott finden würde. Mit ihr zusammen.
Einmal, nach einem besonders langen Aufenthalt im Schrank, hatte er nicht nur Angst, sondern auch Wut empfunden. Als das Schloss entriegelt wurde und Licht durch den Türspalt fiel, stand er auf und ging an ihr vorüber, schwankend zwar, aber er ließ sich nicht von ihr berühren und warf ihr die Wiedergutmachungsgeschenke vor die Füße. Er drohte ihr, sie zu verlassen, seinem Vater zu sagen, was sie getan hatte. Sie zitterte und weinte. Aber an jenem Tag erzählte sie ihm auch, dass der Mann, der ihn gezeugt hatte, ihn nie hatte haben wollen. Sein Vater hätte sogar für eine Abtreibung bezahlt, die sie jedoch verweigert hatte. Und später, nachdem er zur Welt gekommen war, hatte sich sein Vater da zu ihm bekannt? O ja, für eine gewisse Zeit war er geblieben, aber nach zehn Jahren war die Ehe gescheitert, sein Vater hatte seine Mutter betrogen und sie und ihn verlassen.
Damals hatte er erkannt, dass sie ausnahmsweise einmal die Wahrheit sprach. Sein Vater hatte sie beide tatsächlich um einer Hure willen im Stich gelassen.
Von dem Moment an wusste er, dass er das Unrecht tilgen musste. Es sollte seine eigene Wiedergutmachung dafür sein, dass er nicht gewollt gewesen war.
Und voller Eifer hatte er nach dem Schwert der Rache gegriffen.
War nicht die neue Ehefrau gestorben?
Hatte man ihn nicht mit misstrauischen Blicken verfolgt?
War er dann nicht hier gelandet? Auf immer weggesperrt, bis die Anstalt ihre Türen schloss und er von einer Einrichtung in die andere verfrachtet wurde, stets in private Anstalten, stets geleitet von Nonnen und Priestern, mit Rosenkränzen und Kruzifixen, stets in dem Wissen, dass jede seiner Sünden beobachtet und katalogisiert wurde, niemals vergessen und niemals vergeben. Er hatte versucht, seiner Mission treu zu bleiben und nicht seinen eigenen Trieben freien Lauf zu lassen. Er hatte versucht, sich gegen sein Begehren zu wehren.
Und doch – mit Faith … Er hatte alles riskiert, hatte seine Seele dem tiefsten Höllenschlund anheim gegeben, nur um sie zu berühren und bei ihr zu liegen, ihren süßen, warmen Körper über seinem zu fühlen.
Und jetzt war die Tochter hier, die Faith so ähnlich sah, als wäre sie ihre Zwillingsschwester.
Er warf noch einen flüchtigen Blick auf die Schrift an den Wänden seines Zimmers. Über die Bibelpassagen hatte er sorgfältig vierzehn Wörter gemalt, für die vierzehn Opfer, für die Sünder und die Heiligen, für die, die bestraft werden sollten, und für die, die Strafe erteilen würden.
Wenn doch Faith hier wäre … Sie würde ihn verstehen. Sie würde ihn trösten. Sie würde ihn
lieben
. Doch das war nicht möglich. Der Arzt hatte sie getötet. Hatte sie gefickt, und als die Tochter ihn dabei ertappte, stieß er Faith, die schöne Faith, aus dem Fenster.
Sein Körper verkrampfte sich, als er sich an ihren Schrei erinnerte, an den Aufprall ihres Körpers auf dem Beton. Tränen brannten in seinen Augen. Weißglühender Zorn schoss durch seine Adern.
Faiths Tod war kein Unfall gewesen, wie so viele glaubten.
Er
wusste es.
Er
war dabei gewesen.
Und der Arzt würde für seine Sünden bezahlen.
Heute Nacht.
Alle Räume des Krankenhauses lagen ruhig da. Die Luft war abgestanden und roch leicht modrig. Abby hatte das Gefühl, dass die Temperatur kontinuierlich sank, seit sie das Haus durch das Fenster betreten hatte.
Ausgeschlossen, das redest du dir bloß ein! Geh weiter!
Sie öffnete den Reißverschluss des Rucksacks und nahm die Taschenlampe heraus. Eine Stimme in ihrem Kopf schrie, dass ihr Unternehmen der blanke Wahnsinn sei, dass sie genauso verrückt sei wie einige von den Menschen, die früher hier gelebt hatten. Dass sie, wenn sie auch nur ein bisschen Verstand besäße, auf der Stelle umkehren würde.
Sie konnte doch am nächsten Morgen noch einmal herkommen.
Am helllichten Tag.
Mit einem Kampfhund, mit Montoya und
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