Shiver - Meine Rache Wird Euch Treffen
Gedanken an all die gepeinigten Seelen, die hier gelebt hatten, betreut von Ärzten, Krankenschwestern, Sozialarbeitern und anderem Personal. Ihre Mutter war hier angeblich in Sicherheit gewesen, diese Anstalt hatte ein Ort der Genesung, des Trostes sein sollen. Nicht des Schmerzes. Nicht des Grauens. Nicht des Missbrauchs.
Abby sandte ein Gebet für ihre Mutter zum Himmel. »Ach, Mom, es tut mir so Leid«, sagte sie dann laut und mit schwerem Herzen.
Während sie den rissigen Gehsteig zur Rückseite des Gebäudes entlanghastete, dachte sie an das Monster, das Faith missbraucht hatte, an den Arzt, der in Zimmer 207 eingedrungen war und unter dem Vorwand, helfen und heilen zu wollen, nur noch mehr Leid gebracht hatte.
»Ich hoffe, du schmorst in der Hölle«, flüsterte sie.
Es wurde jetzt rasch dunkler, die Sonne versteckte sich hinter dichten Wolken, und schwere Regenfälle kündigten sich an. Eilig lief Abby bis zur Hintertür. Sie war fest verschlossen, genauso wie bei ihrem vorherigen Besuch. Doch das Fenster, durch das sie seinerzeit eingestiegen war, stand halb offen. Schwester Maria hatte offenbar vergessen, den Hausmeister anzuweisen, es zu sichern.
Sie betrachtete das Fenster.
Ein Glückstreffer?
Oder ein böses Omen?
Etwas in ihr hatte immer noch Angst, scheute vor diesem Unternehmen zurück.
Doch dann gab sie sich innerlich einen Ruck und schüttelte ihre Ängste ab. Sie stemmte sich auf den Sims und sprang von dort ins Gebäude.
Sie war hier! Dessen war er sich sicher.
Tief in seinem Heiligtum hörte er das leise Tappen von Füßen über seinem Kopf. Sein Puls beschleunigte sich. Sie war gekommen. Angelockt durch die Vergangenheit kehrte Faiths Tochter an den Ort zurück, wo ihr Schmerz seinen Anfang genommen hatte. Er leckte sich die Lippen und blinzelte.
Sein
Schmerz hatte freilich viel früher eingesetzt.
Er starrte an die Wände seines Zimmers und sah die Schriftzüge, die er mit so großer Sorgfalt dort aufgetragen hatte. Bibelpassagen, Worte der großen Religionsphilosophen, seine eigenen privaten Theorien, übernommen von seiner Mutter, bestätigt von den strengen katholischen Schulen, die ihn irgendwann rausgeworfen hatten.
Er lauschte angestrengt. Hörte deutlich die Schritte. Die Schritte der Tochter.
In seinem Körper regte sich wieder etwas, die Lust, die er bei Faith Chastain empfunden hatte, der Zorn, den er verspürte, als er erkannte, dass sie sich auch dem Arzt hingab.
Der Lohn der Sünde ist der Tod
.
Wie oft hatte er diese Worte von seiner Mutter zu hören bekommen, wenn sie am Fenster saß, die offene Bibel auf dem Schoß, die brennende Zigarette vergessen im Aschenbecher, mit einem Drink, in dem die Eiswürfel schmolzen … »Er wird bezahlen«, hatte sie ihrem einzigen Sohn immer wieder versichert. »Dein Vater und seine neue Frau, diese Hure, sind Sünder und werden beide dafür bezahlen.« Dann nahm sie einen Schluck von ihrem Drink und leckte sich einenTropfen von der Lippe. »Wir müssen alle bezahlen.« Sie sah ihn an und in ihrem Blick entdeckte er nicht einen Hauch von Mutterliebe. »Auch du. In deinen Adern fließt sein Blut und du wirst dafür bezahlen.« Noch einen Schluck, dann bedachte sie ihn mit diesem sarkastischen Lächeln, das er hassen gelernt hatte. »Und du bist ja auch schon so weit, nicht wahr? Die Nonnen in der Schule haben es mir gesagt.«
Selbst jetzt noch spürte er das Pulsieren der Scham, wie damals, wenn sie über die Sünden wetterte, die ihr selbst als solche eingebläut worden waren. Mit zitternden Fingern hatte sie sich eine frische Zigarette angezündet und sich dann ganz auf seine Verfehlungen konzentriert. Die Nonnen hatten ihr berichtet, er würde in der Schule schummeln, was natürlich eine Lüge war, aber sie glaubte den frommen Schwestern, und um ihn zu bestrafen, hatte sie ihn in einen Wandschrank gesperrt. Dort sollte er über seine Sünden nachdenken.
Es war nicht das erste Mal.
Zuvor war er einmal in der Schule dabei ertappt worden, wie er ein Mädchen küsste. Zuhause sah er sich dann einer erbosten und beschämten Mutter gegenüber. Damals war er drei Tage lang eingesperrt worden, nackt ausgezogen, ohne Wasser, in seinem Urin und Kot sich selbst überlassen, mit dem Befehl, als Buße an die Wände zu schreiben:
Der Lohn der Sünde ist der Tod
. Er war überzeugt gewesen, in diesem leeren Schrank, der vormals die Waffen seines Vaters beherbergt hatte, sterben zu müssen.
Natürlich hatte sie ihn wieder
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