Shiver - Meine Rache Wird Euch Treffen
Kehle zusammen. In einem Winkel ihres Bewusstseins war sie immer der Meinung gewesen, der erste Krankenhausaufenthalt ihrer Mutter sei ihre Schuld gewesen …, dass, wenn sie nur mutiger gewesen, früher aufgestanden wäre und Faith Chastain irgendwie daran gehindert hätte, sich im Bad einzuschließen, ein Teil der Tragödie, zu der das Leben ihrer Mutter dann wurde, hätte abgewendet werden können.
Ich verzeihe dir … Abby Dana, ich verzeihe dir
… Die Stimme ihrer Mutter, sanft hingehaucht, wie immer in ihren Träumen, streifte ihr Bewusstsein.
Sie spürte erste kühle Regentropfen vom Himmel fallen und trat um eine von Unkraut verseuchte Hecke herum, um dieRückfront des Krankenhauses zu betrachten. Wie oft hatte sie an genau dieser Stelle gestanden, war voller Angst aus den Schatten des Waldes herausgetreten, in der vergeblichen Hoffnung, keine der Nonnen, schon gar nicht Schwester Rebecca mit dem strengen Gesicht oder die immer gereizte Schwester Madeline, würde sie erwischen!
Erneut hob sie die Kamera und fotografierte diese Seite des alten Gebäudes, die Weide und die langgestreckte offene Veranda, auf der jetzt eine einzige vergessene Liege, verrostet und zerbrochen, auf den rissigen Steinplatten lag.
Knirsch!
Sie hob den Blick zu einer Regenrinne, die sich rostig und schwer von jahrealtem Unrat vom Dach gelöst hatte. Das Metall bewegte sich im Wind. Ein Wasserspeier mit Augen, die über dem als Abfluss dienenden offenen Mund hervortraten, blickte böse auf sie herab.
Himmel, wie hatten diese steinernen mittelalterlichen Monster sie geängstigt, als sie ein Kind war. Sie war überzeugt gewesen, dass Vögel und Eichhörnchen, die dumm genug waren, diesem klaffenden dunklen Maul zu nahe zu kommen, von dem bösartigen Wesen geschnappt und gefressen wurden.
Sie blickte zu den oberen Stockwerken und dem Fenster im zweiten Stock auf, das sich direkt über ihr befand. Das Fenster, zersplittert, als sich Faith durch die alten Scheiben stürzte, war erneuert worden und zählte zu den wenigen, die noch unversehrt waren. Keine Risse, nicht mit grauen Brettern zugenagelt.
Abby richtete die Kamera auf das Fenster und trat bis ans Ende der Zufahrt zurück, um sicherzustellen, dass sie das gesamte Gebäude einschließlich des Brunnens aufs Bild bekam. Als sie durch den Sucher blickte, die Schärfe einstellteund die erste Aufnahme schoss, glaubte sie einen Herzschlag lang, eine dunkle Gestalt am Fenster im Zimmer ihrer Mutter stehen zu sehen. Sie betrachtete die Glasscheibe und das runde, bunte Bleiglasfenster darüber, doch niemand war dort zu erkennen.
»Natürlich nicht«, schalt sie sich selbst. Sie war entschlossen, sich von ihrer eigenen wilden Fantasie nicht kleinkriegen zu lassen. Ja, es war ein deprimierender Ort, eben der Ort, an dem ihre Mutter ums Leben gekommen war, aber es war an der Zeit, sich ihm zu stellen.
Sie biss die Zähne zusammen, kämpfte das Rasen ihres Pulses nieder, richtete die Kamera auf das Fenster zum Zimmer ihrer Mutter und verlor sich in dem Spiel der Schatten, Formen und Bilder, die sie im Sucher sah. Sie machte Aufnahmen von dem Gebäude als Ganzem, dann von einzelnen Abschnitten, dem leblosen Brunnen mit seinen bemoosten weinenden Engeln, den skelettartigen Resten der ehemaligen Feuerleiter und der großen, dräuenden Eingangstür, auf die sie damals zugerannt war, begierig, ihre Mutter zu sehen, mit aufgeregt klopfendem Herzen, weil es sie drängte, Faith an ihrem gemeinsamen Geburtstag von ihrem neuesten Schwarm zu erzählen …
Oder etwa nicht?
Mit gefurchter Stirn dachte sie nach, ging im Kopf die Jahre zurück. War es so geschehen? Oder hatte sie sich die Erinnerung an diesen Tag so zurechtgelegt?
Der Regen wurde heftiger, als sie an der Stelle im rissigen, nassen Beton stehen blieb, an der der Körper ihrer Mutter mit einem dumpfen Aufprall, der ihr Herz hatte stocken und Übelkeit aufsteigen lassen, aufgeschlagen war.
»Oh, Mama«, flüsterte sie.
Die Kehle schnürte sich ihr zu. Ihr wurde ein wenig schwindlig,als sie sich an den entsetzlichen Schrei erinnerte, daran, wie sie sich umdrehte und ihre Mutter herabstürzen sah, wie die Knochen und der Schädel brachen und dickes rotes Blut hervorquoll.
»Mein Gott«, flüsterte sie und schlug mit heftigen Bewegungen ein Kreuzzeichen über der Brust. Sie konnte die Stelle, an der ihre Mutter aufgeschlagen war, genau angeben, und als sie jetzt die Augen schloss, hörte sie wieder die auf sie einstürmenden
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