Shiver - Meine Rache Wird Euch Treffen
als sie erwartet hatte. Ihr wurde das Herz schwer, als sie das alte Krankenhaus betrachtete, ein Gebäude, das den Bürgerkrieg, zwei Weltkriege und viele andere Unruhen überlebt hatte. Hundertfünfzig Jahre lang war es gepflegt und am Leben erhalten worden, aber dann hatte man es aufgegeben.
Alles Leben ist begrenzt
.
Alles und jeder muss sterben
.
Abby ignorierte die Wehmut, die sie plötzlich überkommen hatte, schob ihre Kamera zwischen den Gitterstäben hindurch und machte ein halbes Dutzend Aufnahmen.
Während sie durch den Sucher spähte, verspürte sie eine überwältigende Traurigkeit angesichts des bröckelnden Mörtels, der fehlenden Dachziegel, der mit Brettern vernagelten Fenster. In leuchtendem Orange aufgesprühte Graffiti waren noch unter einer Schicht schwarzer Farbe erkennbar, die jemand, wahrscheinlich im Auftrag der Nonnen, darüber gestrichen hatte, um die Obszönitäten zu verdecken.
Lieber Gott, was war denn in sie gefahren? Sie hatte diesen Ort gehasst. Warum dann diese Wehmut, diese Sentimentalität?
Vielleicht war sie noch viel verkorkster, als sie annahm.
»Hör auf«, ermahnte sie sich. »Das führt doch zu nichts.«
Abby versuchte, das Tor zu öffnen. Das alte Metall rasselte und ächzte, aber Schloss und Kette gaben nicht nach. Natürlich nicht. Damit hatte sie gerechnet. Jetzt konnte sie umkehren. Schließlich hatte sie die Stelle gesehen, an der ihre Mutter gestorben war, wenn auch nur aus einiger Entfernung.
Doch war sie nicht zufrieden. Das hier, so schwor sie sich, sollte ihr letzter Besuch im Krankenhaus Our Lady of Virtues sein. Wenn sie die Geister der Vergangenheit heute nicht vertreiben konnte, war es ihr Schicksal, sie für den Rest ihres Lebens mit sich herumzuschleppen.
Was für eine deprimierende Vorstellung.
Sie musste also tun, was in ihren Kräften stand.
Abby stieg wieder in ihren Honda, aber statt an der Weggabelung auf die Hauptstraße abzubiegen, steuerte sie das Kloster an. Kurz vor dem Tor schlug sie einen engen Verbindungsweg ein, der zu einem tiefer gelegenen, früher hauptsächlich von Wartungskräften genutzten Parkplatz führte.
Diesen kleinen Parkplatz hatte sie als Kind zusammen mit Zoey entdeckt, als sie in der Umgebung des Krankenhauses auf Entdeckungsreise gingen.
Abby nahm ihre Kamera vom Beifahrersitz und trat hinaus in die Wärme und Einsamkeit des Nachmittags. Sie hörte das Zwitschern der Vögel und das Keckern eines Eichhörnchens, doch durch die dicken Mauern, die das Kloster selbst umgaben, drang kein Geräusch von Gebeten oder Musik oder Unterhaltungen. Gut. Sie wollte nicht, dass die Nonnen sie bei der Ausführung ihres Plans beobachteten.
Ziemlich nervös, weil sie nicht nur das Gesetz brach, sondernwomöglich auch einen Fehler mit unvorstellbaren emotionalen Folgen beging, schüttelte sie doch ihre Bedenken ab, verriegelte den Wagen und steuerte auf eine der Garagen zu, in der Rasenmäher und Gartengeräte untergebracht waren.
Eine Reihe von fünf Meter hohen Lebensbäumen flankierte einen Maschendrahtzaun, der sich hoch über Abbys Kopf erhob. Oben neigte sich der Zaun nach innen, so dass er von der Krankenhausseite her unmöglich zu überwinden war oder zumindest nicht so einfach, wenngleich Abby wusste, dass man es schaffen konnte, wenn man nur sportlich genug war.
Mit zehn Jahren war es ihr gelungen.
Jetzt war es eine Herausforderung. Konnte sie über den Zaun steigen, drei Meter tief zu Boden springen und später dann irgendwie wieder auf die andere Seite klettern? Als Kind war sie flink wie ein Äffchen in Bäume, über Zäune und auf Balkone gestiegen. Jetzt, beinahe fünfundzwanzig Jahre älter und fünfunddreißig Pfund schwerer als vor dem Beginn der Pubertät, konnte es äußerst schwierig werden. Doch es hatte ein Tor gegeben, wenn sie sich recht erinnerte, ein Tor, das den Nonnen und dem Anstaltspersonal Zugang von der einen Einrichtung zur anderen gewährt hatte. Sie suchte den Zaun ab und fand etwas, das früher ein Eingang gewesen sein musste, doch jetzt war er von dornigem, ungestutztem Gestrüpp fast überwuchert. Flüchtig kam ihr die Dornenhecke des Dornröschenschlosses in den Sinn, aus dem Märchen, das ihre Mutter ihr oft vorgelesen hatte, als sie, Abby, noch ein Kind war. In dieser Gutenachtgeschichte hatte sich der Prinz einen Weg durch die grauenhafte, dornige Hecke gebahnt, um seine Prinzessin zu erlösen. Abby erwartete nicht so Großartiges oder Romantisches. Selbst wenn sie es schaffte, in das
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