Shotgun Lovesongs
bisschen zumachen und deine Beine ausruhen, aber schlaf bloß nicht ein. Sing einfach weiter. Jeder hier kennt dieses Lied. Sing weiter. Das wird dich warm halten. Sing so laut du kannst. Du solltest niemals Angst haben zu singen. Sing einfach weiter. Das wird dich wach halten.
Danach weiß ich nichts mehr. Nur noch, dass mir schrecklich furchtbar kalt war und dass ich mich immer wieder gefragt habe, wo zum Teufel denn bloß alle anderen waren.
Mitten in der Nacht klingelte das Telefon, das auf meinem Nachttisch lag. Ich griff danach, bevor es zum zweiten Mal klingeln konnte. Mein Herz pochte wie wild. Zu dieser Stunde kommen nie gute Nachrichten – niemals. Ich hatte schreckliche Angst, mein Vater oder meine Mutter könnten gestorben sein. Aber es war Lucy. Ich konnte kein einziges Wort von dem verstehen, was sie sagte. Sie schluchzte in den Hörer, schrie fast. Und das Seltsame war, dass ich, als ich ihre Stimme erkannte, mich so entspannte, dass ich beinahe wieder eingeschlafen wäre. Ich weiß, das klingt komisch und womöglich gefühllos, aber ich war einfach so erleichtert, dass es nicht einer meiner Eltern war, der da gerade anrief und mir sagte, ich müsse schnell ins Krankenhaus kommen, es bleibe nicht mehr viel Zeit. Ich gab das Telefon an Henry weiter und er nahm es und versuchte, Lucy zu beruhigen. Er saß auf der Bettkante auf seiner Seite des Bettes und ich legte meine Hand auf seinen Rücken. An einem der Fenster waren die Vorhänge nicht zugezogen und obwohl es mitten in der Nacht war, war es wegen des vielen Schnees draußen wesentlich heller als sonst.
»Okay, ich komme sofort«, sagte Henry. »Halte durch, ich bin gleich da.«
Er gab mir den Hörer zurück, damit ich ihn auf die Gabellegen konnte. »Was ist passiert?«, fragte ich und setzte mich auf. »Wo gehst du hin?«
»Es ist Ronny. Sie können ihn nicht finden.«
»Was soll das heißen, sie können ihn nicht finden? Wir haben ihn doch gerade noch gesehen .«
»Trotzdem, sie können ihn verdammt noch mal nicht finden, Beth, okay? Ich fahr hin. Ich hab mein Handy dabei.«
»Lass mich mitkommen.«
Henry zog zwei Paar Socken an, lange Unterhosen, seine dickste Carhartt-Hose, mehrere Flanellhemden und einen Wollpullover.
»Nein, bleib hier. Hör zu, ich weiß nicht mal, ob ich es überhaupt von der Auffahrt auf die Straße schaffe. Bleib du hier bei den Kindern. Wir werden ihn schon finden.«
Er war schon fast zur Zimmertür hinaus und ich hatte plötzlich das Gefühl, ich würde ihn nie wiedersehen, niemals, und dass es sich genau so anfühlen muss, wenn man mit einem Feuerwehrmann verheiratet ist oder einem Polizisten oder mit einem Soldaten. Keine Zeit für Verabschiedungen, keine Zeit, sich noch einmal zu küssen. Alles hängt in der Luft – das ganze Leben –, alles ist in der Schwebe, nur damit der Mensch, den du in der ganzen Welt am meisten liebst, nach draußen stürmen kann, ins Feuer, in eine Schießerei, in einen Blizzard, während sein ganzes Denken nur darauf gerichtet ist, anderen zu helfen, seinen Kameraden oder seinen Freunden.
Ich stand auf und folgte ihm nach unten in die Küche, wo er seine Jacke anzog und die Schlüssel nahm, die auf dem Küchentisch lagen. Er wandte sich zur Garage und ich hielt ihn am Arm fest.
»Ich liebe dich«, sagte ich und küsste ihn.
»Ich liebe dich auch.«
»Warte.«
»Was?«, fragte er wütend und ungeduldig. »Verdammt, Beth, was denn ?«
»Hier.« Ich gab ihm eine Wollmütze und ein Paar Handschuhe, einen Schal und einen Müsliriegel. Dann öffnete ich den Kühlschrank und gab ihm eine Cola, eine Tafel Schokolade und einen Apfel. Er hatte die Hände voll.
»Ich muss los«, sagte er.
»Nur für den Fall.«
»Okay.«
»Ich liebe dich.«
Er warf die Tür hinter sich zu und startete den Wagen. Ich schaute zu, wie er hinaus in den Blizzard fuhr, unsere Auffahrt hinunter und auf die Straße, wo die roten Schlusslichter unseres Wagens verschwanden. Ich setzte mich an den Küchentisch. Die Uhr an der Mikrowelle zeigte 3 : 09 . Die Kinder würden erst in vier oder fünf Stunden aufstehen, aber ich war hellwach. Ich ging ins Wohnzimmer, ließ mich aufs Sofa fallen und fing an, eine der Zeitschriften durchzublättern, die Felicia am Anfang der Woche vorbeigebracht hatte.
Sie hatte ein paar der Schundblätter abonniert, die ich mir manchmal im Supermarkt anschaute, während ich in der Schlange an der Kasse wartete. Nur Fotos, keine Artikel oder Geschichten oder Gedichte. Nur Bilder
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