Shotgun Lovesongs
war und dass es wirklich schweinekalt war und ich mich total verirrt hatte. Ich erinnere mich nicht daran, dass Lucy gegangen wäre oder ich mich von ihr verabschiedet hätte, erinnere mich nicht daran, sie geküsst zu haben. Erinnere mich nicht, dass Lucy mir angeboten hätte, mich nach Hause zu begleiten, oder Henry und Beth mir vorschlugen, mich mit dem Auto heimzubringen. Kann mich nicht daran erinnern, ob Eddy mir einen Job anbot oder nicht. Ob Kip gesagt hat, er könne noch die ein oder andere Hand brauchen, die ihm in der Mühle hilft.
Um die Wahrheit zu sagen, ich hab einfach das Bewusstsein verloren. Hab mir selbst die Kerze ausgeblasen. Gute Nacht.Als ich schließlich wieder zu mir kam, musste ich mich schon ziemlich weit von der Bar entfernt haben, denn ich konnte die guten alten Neonlichter nicht mehr sehen. Konnte nicht mal mehr die Straßenlaternen sehen, die über der Hauptstraße leuchten. Alles war total still und weiß und kalt. Keine Scheinwerfer. Keine mitternächtlichen Ausflügler auf kreischenden Schneemobilen und auch nicht das tiefe dumpfe Getöse der Schneepflüge, die irgendwelche Straßen freiräumen. Nichts. Nur Schnee. Tiefer, schwerer Schnee. Ein bisschen Wind und die Schneeflocken, die auf meiner Haut zischten. Man muss nicht besonders klug sein – kein Raketenforscher, wie mein Dad immer gesagt hat –, um mitzukriegen, dass man sich verirrt hat. Und genau das wusste ich nun – dass ich mich verirrt hatte. Und betrunken war. Mir war schwindelig und oben und unten ergaben keinen Sinn mehr und ich hatte Angst. Aber ich glaube, ich habe sogar gelacht, während ich weiterlief, weil ich mich noch erinnere, wie ich gedacht habe: Wie zum Teufel kann man es nur schaffen, sich in Little Wing zu verirren? Ich weiß, dass ich die Hände ausgestreckt hatte, denn sie wurden verdammt kalt. Ich hatte ja keine Handschuhe. Ich tastete immer nur so vor mich hin, hoffte, dass ich gegen irgendwas stoßen würde: eine Wand, ein Auto, Scheiße, sogar ein Grabstein wär mir recht gewesen. Dann hätte ich wenigstens gewusst, dass ich nördlich von der Stadt war. Aber nein. Ich bin gegen gar nichts gestoßen. Also bin ich einfach weitergegangen. Hab immer wieder Lucys Namen gesagt, bei jedem Schritt, den ich gemacht habe, so als wollte ich sie zählen, die Schritte. Und ich dachte, das ist jetzt echt superdämlich. Morgen bist du ein Bräutigam, ein Ehemann, ein werdender Daddy. Du ziehst nach Chicago. Und dann … dann musst du ein Kinderbettchen zusammenbauen. Ein paar Wände streichen …
Ich dachte immer wieder, wenn ich doch nur ein Auto finden könnte, irgendein Haus – ein Fenster, das ich dann einschlagen oder eine Tür, die ich eintreten könnte – irgendwie reinkommen, in die Wärme, weg von diesem ganzen Schnee. Er häufte sich auf meinen Schultern, rutschte mir unter die Kleidung, schmolz auf meiner Haut. Und wo waren denn überhaupt alle anderen, verdammt noch mal? Wo war Lee? Wo war Henry? Eddy? Kip? Wo waren meine Freunde? Ich glaube, ich bin dann ein bisschen nüchterner geworden, weil es so scheißkalt war.
Zentimeter um Zentimeter, Meter um Meter. Es fühlte sich an wie Meilen. Lange, eisige Meilen. Meine Schenkel taten höllisch weh vor Kälte, die durch den Stoff meiner Jeans kroch. Meine Kniescheiben fühlten sich an wie Eiswürfel. Ich fing an, ein Lied zu singen, eins von Lees ganz frühen Liedern, das ich immer noch auswendig konnte. Ich dachte, vielleicht würde mich ja irgendwer hören, mich und meine schreckliche Singstimme, und mich suchen kommen. Und eine Weile hielt es mich auch warm. Wie so’n Kind im Sommerlager, das mit seinen Kumpels durch den Regen läuft, und alle singen irgend so ein Lied, damit sie vergessen, wie scheißnass und dreckig sie da gerade werden. Und die ganze Zeit hab ich versucht, die Hände auszustrecken, nach irgendwas zu tasten, aber nie, nicht ein einziges Mal bin ich gegen irgendwas gestoßen und dann, als ich sie schon gar nicht mehr spürte, meine Hände, da hab ich sie in meine Hosentaschen gesteckt und bin weitergelaufen.
Vielleicht solltest du dich ja einfach hinsetzen , dachte ich. An derselben Stelle bleiben. Nach Hilfe rufen . Also legte ich mich hin. Und der Schnee war tief und weich. Es fühlte sich ein bisschen wie ein Bett an. Und es war auf jeden Fall besser alsmeine alten Cowboystiefel, besser als weiter gegen diesen scheiß Wisconsin-Blizzard anzukämpfen. Aber schlaf bloß nicht ein. Du kannst ja vielleicht die Augen ein
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