Shotgun Lovesongs
und höllische Angst hatte, ihn zu verlieren.
»Er kann unmöglich weit gelaufen sein«, sagte ich. »Wir werden ihn schon finden. Irgendjemand muss ihn finden.«
»Aber klar werden wir das«, sagte Eddy einlenkend und keuchte vor Erschöpfung. »Wir finden ihn. He, Ronny! Ron-ny!«
Wir traten mit den Stiefeln den Schnee auseinander, tasteten uns mit den Händen durch die Nacht und schrien seinen Namen, leuchteten vergeblich mit unseren Taschenlampen umher. Ich konnte mich nicht erinnern, je einen so hartnäckigen Sturm erlebt zu haben.
Wir fanden ihn nicht weit von der Hauptstraße. Er lag auf dem Spielplatz der Schule, nahe genug, dass wir die Schaukeln hören konnten, die im heftigen Wind hin- und herschwangen. Er sang vor sich hin. Deswegen habe ich ihn überhaupt gehört. Eddy und ich folgten dem Klang seinerStimme. Wir konnten es kaum fassen. Wir hockten uns neben ihm nieder.
»Ihr habt mich gefunden«, murmelte er. »Scheiße, ich glaube, ich bin betrunken.«
»Alles klar, Kumpel. Komm mit, wir werden dich tragen.«
»Habt ihr mich singen gehört? Das war eins von deinen Liedern. Dieses Lied hab ich immer schon gemocht.«
Ich wischte ihm den Schnee aus dem Gesicht. Dann hoben wir ihn hoch. Eddy nahm den einen Arm und ich den anderen und Ronny hing mit gesenktem Kopf zwischen uns.
»Ich kann meine Füße nicht bewegen«, sagte er.
»Tja«, sagte Eddy. »Dann sing uns mal wenigstens was.«
»Alle haben mich allein gelassen«, nuschelte er. »Warum haben mich alle allein gelassen?«
»Wir sind ja jetzt da, Ronny«, sagte ich. »Wir halten dich fest.«
Wir trugen ihn hundert Meter oder weiter, bis endlich die Giroux-Zwillinge unser Rufen hörten und angerannt kamen. Cameron Giroux, mit seinen ein Meter neunzig Körpergröße und seinem ganzen Gewicht von hundertzwanzig Kilo, hob Ronny hoch wie eine Feder und legte ihn sich über die Schultern, als würde er ein krankes Lamm tragen. Dann verschwand er in Richtung der Scheinwerfer unserer geparkten Fahrzeuge und der Lichter des Krankenwagens, der in der Zwischenzeit von Polizeisirenen begleitet eingetroffen war. Wenig später konnten wir das Hupen der Autos und Trucks hören und die Nacht war nicht mehr so unheimlich still.
Wir gingen zurück, immer in Camerons riesige Fußstapfen tretend.
Nachdem sie Ronny gefunden hatten, ging ich zurück in die Mühle, machte mir Kaffee, setzte mich in mein Büro und schaute aus dem Fenster. Meine Uhr zeigte 4 : 4 4. In weniger als zwölf Stunden sollte seine Hochzeit sein. An dem Morgen meiner eigenen Hochzeit hatte ich mir eine Warmsteinmassage, einen Caffè Latte mit sehr viel Zimt und ein richtig gutes Omelett gegönnt. Ich schüttelte den Kopf.
Seit dem Tag unserer Hochzeit hatte ich mir gewünscht, ich könnte noch mal von vorn anfangen, alles anders machen. Zunächst einmal hätten Felicia und ich über all das geredet, worüber wir schon längst hätten reden sollen, alles, was die ganze Zeit direkt unter der Oberfläche vor sich hin gebrodelt hatte. Kinder, Little Wing, die Mühle, Geld, alles eben. Und dann wünschte ich auch, ich hätte die Paparazzi nicht angerufen. Was hatte mir das gebracht? Klar, ich konnte ein paar Rechnungen bezahlen, aber in der Zwischenzeit hatte sich auch jeder Freund, den ich auf der Welt besaß, entschlossen, mein Unternehmen – mich – für die nächsten acht Monate zu boykottieren. Und das hatte mich wahrscheinlich genauso viel an Einnahmen gekostet, wie ich dafür bekommen hatte, meinen Freund an eine Horde von Klatschreportern zu verkaufen.
Ich stand von meinem Schreibtischstuhl auf und begann,durch die Mühle zu wandern. Es ist ein riesiges Gebäude, das mit Abstand größte in Little Wing. Hier würden wahrscheinlich drei oder vier Kleinstadtkirchen reinpassen, besonders wenn man noch den ganzen Platz in den Getreidesilos und im Keller mitzählt. Es war ein seltsames Gefühl, dort in der Mühle umherzulaufen, mitten in der Nacht, mutterseelenallein, durch diese endlosen Räume.
Das Gebäude hatte zunächst der Agrargenossenschaft von Little Wing gehört, die um das Jahr 1885 gegründet worden war. Mehr konnte ich in den wenigen alten Aufzeichnungen, die es in der Bibliothek noch gab, nicht finden. Es war wohl eine Gruppe von gleichgesinnten norwegischen Farmern gewesen, die darauf aus gewesen waren, ihre Kauf- und Verkaufskraft zu bündeln. Die Genossenschaft bestand bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts. In dieser Zeit gingen die meisten kleinen Farmen
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