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Shotgun Lovesongs

Shotgun Lovesongs

Titel: Shotgun Lovesongs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nickolas Butler
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Spaß zu haben. Ohne jegliche politische oder geschäftliche Hintergedanken und ohne irgendwelche Regeln.
    Einmal, vor sehr langer Zeit, als ich noch ganz am Anfang meiner Karriere stand, wurde ich eingeladen, auf einem Squaredance zu spielen, oben am Lake Superior, in einer dieser winzigen Ortschaften, die in ihrer Existenz keinen Sinn mehr zu sehen scheinen. Es gab kein Stadtzentrum, keine Geschäfte, keinen Hafen und keinen Bahnhof.Und doch kamen immer freitags um sieben Uhr abends Hunderte von Leuten von den umliegenden Hügeln und Wäldern hinunter zum alten Rathaus der Stadt. Ich war sozusagen die Vorgruppe. Nach mir sollten noch eine Bluegrass-Band auftreten und dann ein Contra Dance Caller. Es gab ein Buffet, zu dem alle beigetragen hatten, und Punschbowle und Kühlboxen mit Limonade. Man hatte das Licht heruntergedimmt und ich spielte ungefähr eine Stunde lang auf meiner Gitarre, spielte auch ein paar Springsteen-Covers, und alle waren sehr höflich und klatschten und es klingelten keine Handys und keiner war irgendwie abgelenkt oder unterhielt sich. In diesem Augenblick war ich in diesem Ort das Einzige, das existierte.
    Nachdem ich fertig war, übernahm die Bluegrass-Band die Bühne. Die Fiddlespieler rieben ihre Bögen mit Kolophonium ein, der Pianist strich mit den Fingern leicht über die Tastatur und der Kontrabassist ließ seine dicken fetten Saiten sprechen, mit tiefer dunkler Stimme, und dann explodierten sie – und die Musik, die sie spielten, war wie ein gigantischer Kübel Wasser, den man über einem mächtigen Baum ausgoss, einem Baum in voller Blätterpracht. Die Töne verteilten sich vollkommen gleichmäßig und wurden auf dem Weg nach unten immer vielschichtiger, flossen freudesprühend in die Tiefe, sprangen, strömten nach unten, immer weiter nach unten, von Blatt zu Blatt, als liefen sie miteinander um die Wette. Eine kleine Tonfamilie, die sich plötzlich vieltausendmal vermehrte und jedes Rinnsal, jeder Tropfen, jede Träne war eine Perle voller Sonnenlicht und Entzücken. Und alle fingen an zu tanzen. Bald füllte sich der ganze Saal mit dem Geruch von Schweiß, mit ohrenbetäubendem Gelächter und dem Gestank nach nasser Wolle und Schweißfüßen. Die ganzeStadt umarmte mich – im wahrsten Sinne des Wortes –, zog mich in ihre Squaredances hinein und brachte mir die ganzen Promenaden und Schritte und das Klatschen und die Rufe bei. Und ich muss sagen, in diesem Moment verstand ich zum ersten Mal, was Amerika überhaupt bedeutete oder bedeuten konnte. Und das zweite Mal passierte mir das bei Ronny Taylors Hochzeit, in Kip Cunninghams liebevoll restaurierter alter Mühle.
    Amerika, glaube ich, das ist, wenn arme Leute Musik machen und arme Leute sich Essen teilen und arme Leute tanzen, selbst wenn alles andere in ihrem Leben so verzweifelt und so trostlos ist, dass man meint, es gäbe eigentlich gar keinen Platz mehr für Musik und Essen, das man verschenkt, und als wäre zum Tanzen keine Kraft mehr übrig. Und man kann mir jetzt vorhalten, dass ich mich irre, dass wir ein puritanisches Volk sind, ein protestantisches Volk, ein selbstsüchtiges Volk – aber ich glaube das nicht. Ich will das nicht glauben.
    Alle übrigen Einwohner der Stadt, die, die gerade nicht in der Mühle waren, hielten sich ganz offensichtlich im VFW auf. Die Bar war brechend voll. Kip und ich bahnten uns einen Weg zum Tresen und wir hatten kaum den Raum betreten, da hatte uns schon jemand zwei Gläser mit frisch gezapftem kaltem Bier in die Hand gedrückt. Wir standen eng aneinandergepresst. Durch die offenstehende Tür kam ein sehr kalter Windzug, der sich aber in diesem Augenblick ganz wunderbar anfühlte. Die alte Jukebox spielte ein Lied von Waylon Jennings.
    »Das hast du echt gut gemacht heute Abend«, brüllte ich in Kips rechtes Ohr. »Das ist eine verdammt gute Party, die du da geschmissen hast.«
    Kip nickte dankend mit dem Kopf, sagte jedoch nichts und schlürfte sein Bier. Er hatte sich verändert, das konnte ich sehen. Oder vielleicht hatte sich ja auch einfach nur meine Sichtweise geändert. Irgendetwas war anders. Der Kip, den ich früher gekannt hatte oder geglaubt hatte zu kennen, hätte jetzt eine selbstbeweihräuchernde Rede gehalten, hätte jedem das Gefühl gegeben, man wäre von nun an verpflichtet, sein Unternehmen zu unterstützen, hätte vielleicht sogar einen Hut herumgereicht. Aber er tat nichts dergleichen.
    »He«, schrie ich. »Ich will, dass wir uns wieder vertragen. Verstehst

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