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Shotgun Lovesongs

Shotgun Lovesongs

Titel: Shotgun Lovesongs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nickolas Butler
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ich Henry und sprach etwas lauter, um den Zug zu übertönen.
    Er zuckte mit den Schultern, beugte sich nah zu mir herüber und sagte: »Ich weiß nicht. Ein bisschen vielleicht. Und gleichzeitig fühlt es sich so an, als würde es bis morgen noch ewig dauern, verstehst du? Ich glaube, ich bin ein bisschen nervös wegen der Zeremonie – dass ich das Falsche sagen könnte oder in Ohnmacht falle oder sonst irgendwas Dämliches.«
    »Du machst das schon«, sagte Ronny und wischte Henrys Bedenken einfach weg, als verscheuchte er ein paar Schmetterlinge.
    »Du hast echt großes Glück«, sagte ich.
    »Ich weiß.«
    »Beth ist … Sie ist einfach unglaublich. Ich freue mich wahnsinnig für euch zwei.« Ich nahm einen Schluck von meinem Bier und war froh, dass es dunkel war und Henry mein Gesicht nicht sehen konnte.
    »Danke«, sagte er. »Alles okay bei dir, Lee? Du wirkst ein bisschen, ich weiß auch nicht, irgendwie ein bisschen neben der Spur heute Abend.«
    Der Zug war endlich an uns vorbeigefahren. Ka-klonk-ka-klonk-ka-klonk . Dann ließ er seine Pfeife ertönen, diesen herrlichen Mitternachtsjazz, voller Hörner und Rhythmus … Ka-klonk-ka-klonk-ka-klonk…
    »Nein – echt – mir geht’s gut, Kumpel. Alles in Ordnung.«
    »Also gut«, sagte Henry, klopfte mir auf den Rücken, trank sein Bier aus und stand auf. »Ich glaube, ich werd mich mal aufs Ohr hauen. Morgen ist ein großer Tag.« Er reichte mir die Hand und ich schüttelte sie, nachdem ich die Bierflasche in meine Linke genommen hatte.
    »Echt jetzt? Du wirfst das Handtuch? Es ist doch noch gar nicht spät!«
    »Lee, es ist drei Uhr morgens! Du solltest auch mal ins Bett gehen.«
    »Wie du meinst, Papi. Eh, in zwei Stunden wird’s hell. Komm schon. Wir gucken uns zusammen den Sonnenaufgang an, wie in alten Zeiten.«
    Henry lachte nur, winkte uns freundschaftlich zu und stieg dann die Stahlbetontreppen der Mühle hinunter. Baldfolgten ihm Eddy, die Girouxs und Kip, bis schließlich nur noch Ronny und ich übrig waren, so wie immer. Wir saßen einfach nur da, die Gesichter nach Osten, tranken die restlichen Bierflaschen aus, deren Inhalt immer wärmer wurde, und wechselten uns dabei ab, von der Spitze des Silos in die Tiefe zu pinkeln – für einen kleinen Nervenkitzel zwischendurch –, bis der Horizont allmählich verschwommene Umrisse anzunehmen begann und sich in ein immer heller werdendes Blau kleidete.
    »Gleich kommt’s«, sagte ich.
    »Das denke ich eher nicht«, sagte Ronny. »Blasé. Das wird ’ne ziemlich glanzlose Angelegenheit, das kann ich dir sagen. Ich prophezeie Regen.«
    »Hast du gerade blasé gesagt?«
    Er nickte. »Das ist Französisch für da gibt’s nicht viel zu sehen . Ich weiß auch so’n paar Sachen, du Arsch.«
    Wir warteten auf die Farbenpracht der Morgendämmerung, aber vergebens. Schließlich gaben wir auf, kletterten müde und betrunken vom Silo herunter und schlichen uns zum Haus von Ronnys Eltern, wo Ronny sich in das Bett in seinem alten Kinderzimmer schmiss, während ich einfach auf der Erde einschlief. Mrs Taylor muss mich irgendwann später mit einer Decke zugedeckt haben. Gegen Mittag kam sie mit zwei Tassen Kaffee ins Zimmer, öffnete die Vorhänge und sagte verärgert: »Ihr zwei seid doch zu alt für so’n Mist. Ihr seid erwachsene Männer. Mensch noch mal, Lee, jetzt steh auf und mach dich fertig. In ein paar Stunden ist die Hochzeit.« Sie trat ganz leicht gegen mich, mit dem rosa Zeh ihres Plüschpantoffels.
    ...
    Die Orgel verstummte plötzlich und alle, die uns angestarrt hatten, wie wir da vorne standen, drehten sich um und schauten nach hinten, wo Beth jetzt an der Seite ihres Vaters die Kirche betreten hatte. Sie war wunderschön. Schöner noch, als ich sie jemals zuvor gesehen hatte – und ich kannte sie seit einer Ewigkeit, länger als fast jeder andere hier, kannte sie, seit wir zusammen im Kindergarten gewesen waren und Beth Tierärztin hatte werden wollen. Ich musste so heftig schlucken, dass mir die Kehle schmerzte.
    Und dann setzte die Orgel wieder ein, noch viel lauter als vorher – die alte Witwe gab jetzt alles –, und Beth kam nach vorne geschritten, langsam, träumerisch, als liefe sie Schlittschuh. Zweifellos haben alle in der Kirche sie genau so angestaunt wie ich: die Muskeln an ihren Armen, die Muttermale auf ihren Schultern, die Adern und Sehnen an ihrem Hals, ihre weißen Zähne, ihre feuchten Augen, die Spiralen braunen Haars, die tiefroten Lippen. Niemals in der Geschichte von

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