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Shotgun Lovesongs

Shotgun Lovesongs

Titel: Shotgun Lovesongs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nickolas Butler
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Schweinefleisch gegrillt oder selbstgebackener Kuchen verkauft oder eine Tombola mit einem nagelneuen Ford-Pick-up als Gewinn veranstaltet wurde – und dann war das Todesurteil der Mühle erst mal wieder aufgehoben. Die Steuern wurden bezahlt und Gerüchte kamen auf über irgendeinen Messias, der von auswärts kommen und als Retter auftreten würde, irgendein Unternehmer, der diesen alten Balken und Ziegeln und Steinen wieder neues Leben einhauchen würde. Es gab andere Gebäude, wunderschöne Gebäude, die einfach abgerissen wurden: das alte Bahndepot, das ehemalige Postamt, sogar ein altes Opernhaus. Und ein vierstöckiges Hotel, das später eine billige Absteige für Wanderarbeiter, Motorradfahrer oderVeteranen aus dem Vietnamkrieg wurde und danach eine Art Altersheim. Das Gebäude war so alt, dass es über keinen Aufzugsschacht verfügte. Daher wurden die gebrechlichsten Bewohner immer im Erdgeschoss untergebracht. An lauen Frühlingsabenden oder frischen Herbstnachmittagen saßen viele von ihnen auf der erhöhten Veranda vor dem Haus – ein architektonisches Überbleibsel aus der Zeit des Wilden Westens. Die Leute schoben ihre Rollstühle nach draußen oder setzten sich in die Hollywoodschaukeln, ließen sich hin- und herwiegen und schauten dem spärlichen Verkehr auf der Hauptstraße zu. Jedes Jahr am 4. Juli hielten die alten Herrschaften dann mit ihren zitternden Händen kleine amerikanische Flaggen umklammert und schwenkten sie der morgendlichen Parade entgegen; und auch noch Wochen und Monate später winkten sie mit ihren Flaggen den Passanten zu, den Trauerzügen auf dem Weg zum Friedhof oder den Kirchgängern, die nach dem Gottesdienst nach Hause hasteten, um noch das sonntägliche Footballspiel schauen zu können. Sie winkten so lange damit, bis der rot-weiß-blaue Stoff verblichen und an den Rändern ganz ausgefranst war.
    Mein Großvater wohnte dort, zwei Jahre lang, bis zu seinem Tod. Wir besuchten ihn jeden Freitagabend, im Speisesaal des alten Hotels. Der Raum hatte sehr hohe Decken und war ziemlich schwach beleuchtet. Das wenige Licht, das seinen Weg ins Innere fand, schien hauptsächlich durch die uralten, verzogenen Fenster zu kommen, deren Glas unten dicker war als oben. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es hier wohl in früheren Zeiten ausgesehen hatte, als Kerzen und Petroleum noch eine ganz andere Art von Licht, einen viel goldeneren Schein auf die mit Leinentüchern bedeckten Tische geworfen hatten. Wir aßen pochiertenKabeljau, Kartoffelpüree, Erbsen und dazu Brot. Mein Großvater pflückte Fischgräten aus seinem vertrockneten Mund und legte sie akkurat geordnet am Tellerrand ab. Er brauchte immer sehr lange, um die Gräten aus seinem Mund zu entfernen, als hätte er selbst einen Angelhaken verschluckt. Es gab auch eine Bar in dem Saal, und das Gerücht ging um, dass vor langer Zeit, vor sehr, sehr langer Zeit, das Hotel einmal ein Puff gewesen sei. Manchmal konnte man einen alten Mann oder eine alte Frau an der Bar sitzen sehen, die sich vergeblich nach einem Barkeeper umschauten und mit trauriger, verwirrter Stimme sagten: » Ich wollte doch nur ein kleines Schlückchen. Nur mal probieren. « Aber seit dem Tag, als die billige Absteige in ein Altersheim verwandelt worden war, gab es in der Bar keine Flaschen mehr.
    Das alte Hotel wurde schließlich 1988 abgerissen, als ich gerade neun Jahre alt war. Da war mein Großvater schon gestorben. Er wurde auf dem Friedhof begraben, der nicht weit außerhalb der Stadt am Little Wing River liegt, dort, wo man den Fluss gestaut hat und wo das Wasser im Sommer vor Algen ganz grün wird und im Winter von dickem Eis bedeckt ist. Wir nennen diesen Teil des Flusses Lake Wing. Im Sommer fuhren wir dort manchmal Wasserski, auch wenn der »See« kaum mehr war als ein Teich und wir hinter dem etwa fünf Meter langen, von einem kleinen Außenbordmotor angetriebenen Fischerboot aus Aluminium nur ganz enge Kreise ziehen konnten – so eng, dass uns dabei regelmäßig übel wurde. Und das Wasser war so schlammig und voller Seerosenblätter und Algen, dass man mit einem Paar Schneeschuhe wohl beinahe hätte drüberlaufen können.
    Ein Sprengmeister war nicht nötig. Das Gebäude wurdevon oben bis unten durchsucht, um sicherzugehen, dass sich keiner der Senioren im Treppenhaus oder in irgendeiner Besenkammer verschanzt hatte; und dann, als man bestätigte, dass das Hotel absolut und endgültig geräumt war, kam der größte Bagger, den ich in meinem Leben je

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