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Shotgun Lovesongs

Shotgun Lovesongs

Titel: Shotgun Lovesongs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nickolas Butler
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überhaupt nichts mitbrachten, an dem wir nur dasaßen, unsere Knie umklammert hielten, warme Atemluft in unsere Hände bliesen und darauf warteten, dass die Sonne kam und der Tag wärmer wurde. Damals dachte ich nicht groß darüber nach, aber wenn ich mich zurückerinnere, dann war es meistens ich, der Henry anrief, war ich es, der ihn einlud mitzukommen.Wir sprachen nicht viel an diesen Morgen. Saßen einfach nur da und schauten hinaus, als warteten wir auf ein Schiff.
    Ich bin nie am Grand Canyon gewesen, in Yosemite oder Yellowstone, an irgendeinem dieser Orte, von denen die Leute reden – eindrucksvolle, spektakuläre Orte, will ich damit sagen. Aber auch wenn ich noch nie am Grand Canyon war, stelle ich mir doch vor, dass ein Sonnenaufgang dort schon fast eine religiöse Erfahrung sein muss. All jene uralten roten, orangefarbenen und gelben Felsen mit ihren gestreiften Gesteinsschichten, wie sie immer heller werden; all jene tiefen, majestätischen, purpurnen Schatten.
    Ich wünschte, Sie könnten einen Sonnenaufgang von der Spitze eines dieser Getreidesilos, unserer ganz eigenen Präriewolkenkratzer, miterleben. Ich wünschte, Sie könnten sehen, wie grün alles im Frühling ist, wie gelb die Maisquasten nur wenige Monate später und wie blau die morgendlichen Schatten sind, könnten sehen, wie die Bäche sich gemächlich ihren Weg bahnen, wie das Land rollt und rollt und rollt, immer weiter, hier und da durchsetzt von stolzen roten Scheunen, weißen Farmhäusern und fahlen Schotterwegen. Und die Sonne, wie sie im Osten so unendlich rosa und orange heraufsteigt, so riesig. Wie sich in den Gräben und Tälern der Nebel sammelt, als wären es lauter behäbige Ströme aus Dunst, die darauf warten, hinweggebrannt zu werden.
    Ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern, wer ich damals war, was ich dachte. Ich nehme an, ich war ruhelos wie jeder andere auch. Vielleicht war ich auch einsam. Vielleicht glaubte ich ja, wenn ich dort oben auf diesen Getreidesilos stand, dass ich irgendetwas sehen konnte, meine Zukunft, irgendeinen Punkt am Horizont, an dem ich einmallanden würde, eine spätere Version meiner selbst, ein Mädchen, das ich noch nicht kennengelernt hatte, meine zukünftige Frau. Ich weiß es nicht. Aber es fühlte sich gut an, denke ich. Vielleicht fühlte es sich ja sogar wie etwas Künstlerisches an, etwas Nachdenkliches , die Art von Empfindung, die unser alter Kunstlehrer auf der Highschool, Mr Killebrew, uns niemals zugetraut hätte.
    Lee und Ronny schauten sich lieber Sonnenuntergänge an, oder Mondaufgänge. Irgendeinen westwärts fahrenden Güterzug, der tief unter ihnen durch die Nacht brauste, der niemals anhielt und mit seinem zyklopischen Auge die Nacht durchschnitt, dessen Pfeifton das Lauteste war, was die Welt jemals gehört hatte; und hoch oben auf diesen Türmen bekam man plötzlich weiche Knie, als könnte der Zug das Gebäude so erschüttern, dass es in sich zusammenfiel. Diese beiden, immer ganz hoch dort oben – sie sangen »Idiot Wind« oder »Meet Me In The Morning«, schleuderten ihre Bierflaschen weit hinaus in die Nacht, den vorbeifahrenden Zügen hinterher, horchten nach einem Zusammenprall, nach den Polizeisirenen, die nie kamen, nach der Stimme des Gesetzes, die uns sagen würde: Kommt sofort da runter, verdammt noch mal! Aber nein – die ganze Stadt war immer viel zu milde, zu verschlafen, dämmerte vor blaugesichtigen Bildschirmen vor sich hin und ließ sich von Johnny Carson in ein zufriedenes Schnarchen lullen.
    Aber Sonnenuntergänge. Da verstand ich zum ersten Mal, dass Lee anders war als wir, dass es ihm vielleicht sogar bestimmt war, berühmt zu werden. Denn in den zehn oder zwanzig Minuten, die es dauerte, bis die Sonne vollkommen im Westen verloschen war, verlangte er von uns immer, absolut still zu sein. Und ich weiß nicht, warum, aber wir gehorchten ihm, wir ließen uns darauf ein. Unddann saßen wir da, tranken das Bier, das wir unseren Vätern geklaut hatten, schauten hinaus in den chamäleongleichen Himmel und hörten Lee zu. Hörten ihm zu, wie er Hof hielt.
    »Hört ihr das?«, rief er dann, weniger fragend als erklärend. »Hört ihr diesen Ton, diesen Klang? Ich schwöre bei Gott, diese Farbe da drüben, dieses Rosa. Wenn dieses Rosa anfängt, so richtig rot zu werden, dann ist es genau so ein Ton, ich kann es nicht richtig beschreiben, ein hoher zarter Ton. Und hört ihr das, dieses Orange? Nicht dieses Marmeladenorange da, nein, das pfirsichfarbene

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