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Shotgun Lovesongs

Shotgun Lovesongs

Titel: Shotgun Lovesongs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nickolas Butler
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gesehen hatte, die Hauptstraße entlanggerollt, die einsatzbereite stahlgezähnte Schaufel im Anschlag. Die freiwillige Feuerwehr besprengte das Hotel mit einem steten Wasserstrahl, während sich der Bagger in die alten Backsteinmauern und das Holz hineinfraß. Ganze Familien kamen, um dem Abbruch zuzusehen, breiteten Decken auf dem Bürgersteig aus, brachten ihr Picknick mit. Es war ein Sonntag im Oktober; die Luft war trocken und kühl. Meine Mutter reichte uns in Papier eingewickelte Butterbrote mit kaltem Brathähnchen. Wir tranken warmen Apfelwein aus einer Thermoskanne und aßen Kartoffelsalat, Möhrchen und Essiggurken. Mein Vater gehörte zur freiwilligen Feuerwehr und das war das erste und einzige Mal, das wir ihn in Aktion sehen sollten. In seiner Uniform, unter seinem leuchtend gelben Helm, sah er sehr förmlich aus. Heldenhaft und tapfer.
    Mama stupste uns sanft mit den Ellbogen an. »Sieht euer Vater nicht toll aus?«
    Entlang der Bürgersteige schauten die ehemaligen Bewohner des Hotels zu, kauten auf ihren Zungen, als wären sie Trockenfleisch, und wirkten entkräftet und besiegt. Ich weiß nicht, wo sie hingezogen sind, nachdem man das Gebäude abgerissen hatte, aber ich vermute, dass viele von ihnen in Eau Claire gelandet sind, nicht sehr weit nördlich von Little Wing. Der Gedanke an sie machte mich traurig; wahrscheinlich hatte man sie auf unterschiedliche Einrichtungen verteilt, wie Grundschulkinder, deren Eltern sichplötzlich entschlossen hatten, in einer anderen Stadt oder einem anderen Viertel einen Job anzunehmen, und die nun einfach an einen neuen Ort verfrachtet wurden, ohne dass man sie auch nur nach ihrer Meinung fragte.
    Als der Bagger schließlich wieder abzog, blieb von dem einstigen Hotel nichts als ein neues Loch an unserer Hauptstraße zurück, eine Lücke zwischen der Apotheke und der Eisenwarenhandlung. Es lag nur noch ein Schutthaufen dort. Wir schoben eine rote Schubkarre die Straße entlang und verbrachten ganze Nachmittage damit, die verbliebenen Backsteine einzusammeln, obwohl wir noch zu klein waren, um die Schubkarre mehr als zur Hälfte zu füllen, wenn wir sie noch schieben wollten. Dann brachten wir die Backsteine meinem Vater, der uns für jeden gesammelten Stein zehn Cent gab. Er baute damit draußen eine Feuerstelle, eine kleine Feuerhöhle, um die wir uns in den wärmeren Jahreszeiten versammelten, einen Ort, an dem wir Marshmallows rösten und Hotdogs braten konnten.
    ...
    Manchmal nahmen wir auch Mädchen mit, nach oben auf die Mühle, aber meistens waren wir unter uns. Nur wir vier: Lee, Ronny, Henry und ich. In der Nacht war es dort oben besser als vor jedem Teleskop, besser als in allen Planetarien, die wir mit unseren Lehrern der Mittel- oder Oberstufe besuchten. Dort oben auf der Spitze der alten Getreidesilos aus Holz und Zement suchten wir uns einen Fleck, wo wir uns auf den Rücken legen und in den Sternenhimmel starren konnten, wo wir Bier trinken, große Töne spucken oder einfach nur träumen konnten. Unten lag Little Wing, unsere Stadt. Ein Ort, in dem es nicht vielzu sehen gab und der immer weiter vor sich hin schrumpfte. Es gab nicht einmal eine Ampelanlage, die in den Nachthimmel hätte blinken können, und wir machten uns alle regelmäßig über die Stadt lustig, sprachen davon, wegzugehen, irgendwohin, egal wohin, Hauptsache, wir blieben nicht hier. Wir waren davon überzeugt, dass in der Stadt zu bleiben bedeutet hätte, dass wir Versager waren, Bauerntrampel – aber wer zum Teufel weiß schon, was wir damals in diesen Nächten genau dachten.
    Henry und ich, wir fanden es morgens besser. Die Morgendämmerung, die Sonnenaufgänge. Es ist komisch, wenn man mal darüber nachdenkt – aber ich glaube, er war damals schon auf dem Weg, Farmer zu werden, stand früh auf, half seinem Vater auf der Milchfarm, bastelte an alten Maschinen herum und lauschte nach dem Gottesdienst aufmerksam dem, was die ganzen pensionierten oder pleitegegangenen Farmer zu sagen hatten. Es gab nicht viele solche Morgen, aber immerhin eine Handvoll, an denen wir zusammen die Stahlbetontreppen hinaufstiegen, ganz nach oben bis zur Spitze der Getreidesilos, und dort warteten, in der kühlen, blauen Luft, in der wir kaum unseren eigenen Atem sehen konnten. Manchmal teilten wir uns eine Thermoskanne Kaffee oder eine Flasche Brandy oder Brombeerschnaps, die wir aus der Hausbar unserer Eltern geklaut hatten. Aber es muss auch den ein oder anderen Morgen gegeben haben, an dem wir

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