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Shotgun Lovesongs

Shotgun Lovesongs

Titel: Shotgun Lovesongs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nickolas Butler
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ungefähr eine Stunde, während sie nach ihren E-Mails schaute oder mit ihrem Agenten inNew York sprach. Ich saß neben ihr, strich ihr mit meinen Fingern durch die Haare oder wärmte eine ihrer Hände in meinen.
    An manchen Abenden wurde es uns langweilig. Dann fuhren wir zum VFW, setzten uns an die Bar, rüttelten die Würfel in einem alten Lederbecher oder schauten einfach nur ein Footballspiel im Fernsehen. An solchen Abenden geschah es öfter, dass eine junge Frau oder ein Mann mittleren Alters Chloe mit einem Finger an die Schulter tippte und eine Zeitschrift hervorholte, die sie signieren sollte. Manchmal war es auch nur ein Bierdeckel von der Bar. Aber mich bat niemand mehr um ein Autogramm, und genauso wollte ich es haben. Viel erstaunlicher waren jedoch die Abende, an denen niemand etwas zu uns sagte, die Abende, an denen in der Bar nichts los war, wenn wir auf unseren Barhockern saßen, in der Gesellschaft von vielleicht ein oder zwei alten Knackern und einfach nur Karten spielten, Cribbage oder Euchre, und Manhattens tranken oder Brandy Old-Fashioneds. Bei diesen Gelegenheiten hatte ich das Gefühl, als könnten wir vielleicht wirklich in Little Wing bleiben, als würde Chloe Wisconsin vielleicht irgendwann ins Herz schließen können.
    An einem Abend, als wir zurück zu meinem Haus fuhren und sie auf der Sitzbank ganz nah an mich herangerückt war und meine Hand hielt, sagte ich: »Glaubst du … denkst du, du könntest hier jemals leben wollen, zusammen mit mir?«
    Sie kuschelte sich noch enger an mich heran und schmiegte sich in meine rechte Armbeuge. Ich konnte den Brandy in ihrem Atem riechen und wusste, dass sie die Augen schloss und im Begriff war einzuschlafen.
    »Chloe?«
    »Es ist so still hier.«
    »Aber das ist doch schön, oder? Niemand belästigt uns, wir sind wie ganz normale Leute. Wir haben ganz normale Freunde hier …«
    »Ach Lee«, sagte sie. »Lass uns jetzt einfach still sein und gar nichts mehr sagen, okay?«
    »Nein, jetzt komm schon. Wir sollten darüber reden.« Und bei all dem dachte ich, Ich will dich heiraten .
    »Ach, ich weiß nicht, Baby. Es ist lange her, dass ich normal sein wollte. Ich mag mein Leben. Ich mag New York. New York hat alles, was man braucht. Alle Welt will in New York sein.«
    Ich konnte schlecht sagen: Ich will nicht in New York sein .
    »Und außerdem«, sagte sie gähnend, »denk mal drüber nach: Wir sind vielbeschäftigte Leute. Du bist auf Tour. Ich bin am Filmset. New York ist einfach die vernünftigste Lösung. Man kann jederzeit in ein Flugzeug steigen. Die Medien sind dort, die Projekte sind dort. Leute wie du und ich, Lee, die leben nicht in Kleinstädten.« Sie küsste meine Handfläche.
    »Verstehst du?«
    Wenn ich nirgendwo sonst mehr hinkonnte, kam ich hierher zurück. Wenn ich nichts mehr hatte, kam ich hierher, nahm das Nichts und schuf irgendetwas daraus. Ich konnte hier leben, fast ohne etwas auszugeben. Es gab nichts, wofür man Geld benötigt hätte, es gab niemanden, den man hätte beeindrucken müssen. Keiner hier schert sich um irgendetwas anderes als um deine Arbeitsmoral, darum, ob du auch freundlich bist, und um das, was du kannst . Ich bin hierher zurückgekehrt und habe meine Stimme gefunden. So als wäre sie mir einfach nur aus der Tasche gefallen, wieein langvergessenes Souvenir. Und jedes Mal, wenn ich hierher zurückkehre, bin ich von Menschen umgeben, die mich lieben, denen ich etwas bedeute, die mich wie ein schützendes, wärmespendendes Zelt umgeben. Hier kann ich Dinge hören, die Welt pulsiert anders, die Stille summt wie ein Akkord, den man vor Äonen angeschlagen hat, die Musik ist in den Espen und Tannen und Kletteneichen und sogar in den Feldern voll vertrocknendem Mais.
    Wie soll man das jemandem erklären? Wie erklärt man das jemandem, den man liebt?
    Was ist, wenn sie es nicht versteht?

Vor dreizehn, vierzehn Jahren kletterten wir immer mit einem Rucksack voll geklautem Bier dort hoch. Vielleicht auch noch mit zwei oder drei Joints. Ich habe nie einen geraucht, aber sie – Lee und Henry und Ronny. Wir waren ständig dort oben, besonders im Sommer, wenn es nichts anderes zu tun gab. Damals war die Futtermittelmühle schon nicht mehr in Betrieb und bereits verfallen, und ein paar Mal stand sie kurz davor, dem Erdboden gleichgemacht zu werden. Aber dann gab es immer jemanden, der großes Geschrei machte, eine Bürgerversammlung einberief, vielleicht sogar eine Spendensammlung organisierte – auf der

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