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Shotgun Lovesongs

Shotgun Lovesongs

Titel: Shotgun Lovesongs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nickolas Butler
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dort drüben. Hört ihr das? O, Mann! Ich kann es kaum erwarten, bis die blauen Farben kommen! Die blauen und die violetten! Und dann dieser letzte, lange schwarze Ton – dieser widerhallende Basston, der sagt: Nun geht heim, gute Nacht. Gute Nacht, Amerika, gute Nacht. «
    Ich habe nie verstanden, wovon er da eigentlich redete, aber ich habe es versucht. Ich habe versucht , zuzuhören, habe versucht, diese Sonnenuntergangsmusik zu hören, von der er sprach. Aber es gelang mir nicht. Ich konnte es einfach nicht hören. Die anderen Jungs, die hörten die ganze Zeit Musik. Wann immer ich zum Haus von Henrys Eltern kam – damals in der Grundschule, oder auch noch in der Mittelstufe –, saßen die anderen drei unten im Keller und hörten sich die alten Platten von Henrys Vater an, alles, was sie in die Finger kriegen konnten. Und dann wurde Lee Mitglied in einem Schallplattenclub, nachdem er hinten auf einer Zeitschrift eine Anzeige gesehen hatte: Zehn Platten für nur einen Penny! Einen Penny!
    Sogar schon in der Grundschule und auch noch in der Mittelstufe war Lee der erste Mensch, den ich kannte, der einen Walkman hatte. Und er nahm ihn überall hin mit –nach draußen auf den Spielplatz während der Pausen, oder wenn er nach der Schule nach Hause ging. Er versuchte sogar, ihn in die Kirche zu schmuggeln oder heimlich damit Musik zu hören, während wir in der Schule all diese Informationsfilme gucken mussten. Und auch während des Mittagessens schaltete er ihn nicht aus. Er hörte sich aufmerksam die Kassetten – und später die CDs – an, die ältere Kinder ihm zuschoben, als handelte es sich um Schmuggelware. GangstaRap und HeavyMetal und die ersten Anfänge des Grunge. Public Enemy und N.W.A. mussten Anthrax und Metallica weichen, und dann kamen Nirvana, Stone Temple Pilots und Soundgarden. Jahrelang trug er nichts anderes als Flanellhemden. Flanellhemden, ausgefranste Jeans und Chuck Taylor All Stars, die mit kryptischen kleinen Gedichten und Epitaphen bekritzelt waren.
    Oben auf den Silos hatte ein Meer aus Schwarz und Blau den Sonnenuntergang fast vollständig hinweggeschwemmt. »Ich hab’s nicht gehört«, gestand ich ihnen. »Ich habe nicht das kleinste Fitzelchen gehört.«
    Sie lachten mich aus. Und dann pflegte Lee zu sagen: »Du hörst nicht hin. Ich weiß, du versuchst ja, es zu hören, aber du hörst einfach nicht richtig hin, Mann.«
    Ein paar Mal konnte er mich dazu bringen, dass ich mir diese Platte Kind of Blue anhörte, aber das half überhaupt nichts, denn so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte da nichts entdecken, dem ich hätte zuhören können – es gab nicht einmal irgendwelche Worte, an denen man sich festhalten konnte, gar nichts, nur diese Stellen mit einer einsamen Trompete und weichen Klavierklängen, aber so wahnsinnig viele Stellen mit fast überhaupt nichts .
    ...
    Nachdem wir geheiratet hatten, fragte Felicia mich immer wieder: »Warum wolltest du unbedingt hierher zurückkommen? Weshalb? Wir hatten in Chicago alles, was wir uns wünschten oder je gebraucht hätten. Warum dann zurückkehren? Wozu?«
    Ich weiß nicht, ob ich je die richtige Antwort auf ihre Frage fand, aber ich glaube, es läuft letztendlich auf jene Nächte und Morgen hinaus, auf diese drei Freunde. Das Gefühl, als stünden wir jenseits von allem, was wir je gekannt hatten, und als seien wir vielleicht besser als der Ort, der uns zu dem gemacht hatte, was wir waren. Und doch liebten wir das alles auch. Wir liebten es, Kleinstadtkönige zu sein, auf diesen maroden Türmen zu stehen, auf unsere Zukunft hinauszuschauen, nach etwas Ausschau zu halten – vielleicht nach Glück, vielleicht nach Liebe, vielleicht nach Ruhm.
    Und wenn ich manches davon in einem Stadtteil von Chicago fand; an der Gold Coast oder der Miracle Mile oder im Innern des Loop, dann war das Einzige, was mir dazu einfiel, das Einzige, was ich tun wollte, wieder heimzukehren, das Exil zu verlassen, diesen Jungen, die jetzt Männer waren, zu zeigen: Schaut her. Seht, was ich geschafft habe. Seht, wer ich jetzt bin. Schaut mich an.
    Darum bin ich zurückgekommen. Nur dass ich jetzt der Einzige bin, der noch dort oben hinaufgeht. Ich bin der Einzige, der auf die Spitze dieser Silos klettert. Der sich Sonnenaufgänge anschaut und sich bei ihrem Anblick einfach nur wünscht, wieder zurück im Bett bei Felicia zu sein. Oder zurück in Chicago, um dort darauf zu warten, dass die Taxis die Stadt aufwecken.

Wenn ich auf einem dieser Stiere saß,

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