Shotgun Lovesongs
weggegangen sind, wie zum Beispiel Henry und Beth und Eddy und die Giroux-Zwillinge. Scheiße auch, die haben es nicht mal so weit weggeschafft wie ich, als ich noch Rodeo geritten bin. Und wissen Sie, es klingt verrückt, aber es passierte immer genau an solchen Tagen, wenn ichmorgens die Stadt verließ und versuchte wegzulaufen, dass ich es am meisten gespürt habe. Dieses Zerren.
Ich lief auf dem Kies des Seitenstreifens, an den Landstraßen von Wisconsin entlang, an der County Road X oder Y, dem Highway 93 oder der Missell Road. Und ich genoss diese Spaziergänge: die Rotdrosseln und aufgescheuchten Rehe und den Morgennebel. An solchen Vormittagen trug ich Turnschuhe statt Cowboystiefel und ich mochte das, mochte das Gefühl, wenn ich in diesen Schuhen lief, wenn sie wie zwei Wolken unter meinen Füßen schwebten und mich vorwärtstrugen.
Einmal, vor ungefähr zwei Jahren, hatte ich die Stadt schon etwa zwanzig Meilen hinter mir gelassen. Ich wusste, dass ich mich dem Mississippi näherte, weil sich das Land um mich her zu verändern begann, es wurde immer hügeliger, die Sandsteinrinnen und die tiefen, kühlen Wälder wurden zahlreicher, und ich kam nicht mehr so gut voran in dieser Landschaft. Es wurde immer einsamer und ich glaube, es war ungefähr zur Abendessenszeit, als doch tatsächlich Eddy Moffitt an mir vorbeigefahren kam, auf seinem Weg zurück nach Little Wing. Ich hörte, wie er abbremste und seinen Ford Taurus wendete und hinter mir herfuhr, und zuerst bin ich einfach weitergelaufen, aber dann blieb ich stehen und setzte mich ins Schotterbett und hörte den Insekten in den Bäumen zu und dem Geräusch von Eddys Motor, bis er ihn abstellte, ausstieg und zu mir herüberkam. Er trug das, was er im Sommer immer anhat: ein kurzärmeliges Hemd, Schlips und Khakihosen.
»Ronny«, sagte er und kratzte sich am Kopf. »Hast du dich verirrt?«
»Nein«, sagte ich und spuckte aus.
»Tja, also, was machst du dann hier?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich bin einfach losgelaufen.«
Er rieb sich den Bauch. »Hmm. He, kann ich dir vielleicht ’ne Tasse Kaffee spendieren und was zum Abendessen? Ich sterbe vor Hunger und du bestimmt auch.«
Ich glaube, er wusste, was ich vorhatte. Eddy ist so einer. Er ist ziemlich scharfsichtig und feinfühlig – nicht immer, aber meistens und auch mehr als andere Leute. Ich wusste, er würde mich nicht in Ruhe lassen. Also stand ich wortlos auf, klopfte mir den Staub vom Hosenboden, hob meine Tasche auf und stieg in sein Auto ein. Ich hatte das starke Bedürfnis, auf irgendetwas einzuschlagen – nicht auf Eddy –, aber verdammt noch mal , ich hätte wahnsinnig gerne ein Fenster zertrümmert oder einen Scheinwerfer oder irgendeinen anderen Scheiß.
Eddy legte seine Hand auf meine Schulter. »Komm, besorgen wir uns was zu essen.«
Wir gingen in das letzte Lokal, das es in Little Wing noch gibt. Es heißt The Coffee Cup. Die haben da so ’ne Art Essenskarussell, in dem sich die Kuchen und Pasteten immer im Kreis drehen. Die Wände sind ganz braun von dem ganzen Zigarettenqualm und Kochdunst und die Tischdecken sind rot-weiß kariert und bleiben an den Händen und Unterarmen kleben wie Fliegenpapier. Ich esse nie in dem Laden, jedenfalls nicht, wenn ich’s vermeiden kann, denn das, was die da kochen, läuft einfach so durch mich hindurch, als wären meine Eingeweide ein Sieb. Aber Eddy öffnete die Tür für mich und führte mich in den hinteren Teil des Restaurants. Da waren fünf Barhocker an einer ziemlich hässlichen alten Theke und auf der Theke standen lauter Teller voller Zucker- und Süßstoffpäckchen in Rosa und Blau und Weiß und kleine Plastikbecher mit Sahne und Glasflaschen mit Ketchup. Die Theke grenzte direkt andie Küche, und in der Küche stand Howard, der Besitzer, und nickte uns zu, als wäre er schon ganz erschöpft von der vielen Arbeit. Dabei waren außer uns nur noch zwei andere Kunden in dem Laden.
»He, Ronny, he, Eddy«, rief er und winkte uns mit seinem Bratenwender zu. »Die Kellnerin ist gleich bei euch.«
Wir wussten natürlich beide, dass mit der »Kellnerin« Howards Frau Mary gemeint war, die ich ganz genau sehen konnte, wie sie in der hintersten Ecke der Küche stand und Zigarettenrauch durch ein winziges dreckiges Fenster blies.
»Das Coffee Cup«, sagte Eddy mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht, »existiert nur deshalb, weil wir Menschen hier im Mittleren Westen immer Schuldgefühle haben und weil man sich am Sonntag nach
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