Shotgun Lovesongs
es vorher gewesen war, und ich hatte wieder dieses Gefühl, dass ich wegmusste, dass ich rauswollte, aus diesem verschlafenen kleinen Städtchen.
Unsere Kinder standen zusammen mit ihren Großeltern auf der Verandatreppe und winkten uns zum Abschied zu. Auf ihren Gesichtern lag nicht die geringste Spur von Traurigkeit. Sie lächelten sogar, als wir losfuhren, und noch bevor wir überhaupt außer Sichtweite waren, drehten sie sich um, griffen nach den alten, schwieligen Händen meiner Eltern und zogen sie hinter sich her zurück in unser Haus. Es ist ein seltsames Gefühl, wenn die eigenen Kinder einen so gar nicht zu vermissen scheinen, und ich muss zugeben, dass ich mich in diesem Augenblick fragte, ob es wohl so eine gute Idee gewesen war, nach New York zu fahren, und ob es nicht eleganter gewesen wäre, einfach unsere herzlichsten Grüße und ein Geschenk zu senden.
»Er hat uns die Flugtickets geschickt«, wandte Henry ein, als wir nachts im Bett lagen. »Was können wir da als Entschuldigung vorbringen? Dass wir zu viele andere gesellschaftliche Verpflichtungen haben? Und außerdem, wer sonst soll sich auf der Reise um Ronny kümmern?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Die Frau, die er zur Hochzeit mitbringt, vielleicht? Er ist gar nicht so hilflos, Henry.«
»Jetzt komm schon«, gurrte Henry.
Ich seufzte resigniert. Und esa stimmte ja, dass ich noch nie in New York gewesen war und mich darauf freute hinzufahren. Den Central Park zu sehen und den Broadwayund das Empire State Building und all die anderen Orte und Dinge, die für die Einwohner der Stadt zweifellos längst unsichtbar geworden waren. Der Gedanke ist schon seltsam, dass so etwas wie ein Wolkenkratzer für manche Leute tatsächlich unsichtbar werden kann; ich glaube, mir könnte das nie passieren. Ich weiß, das klingt naiv, aber es gibt Gebäude, die fallen mir, wenn ich in die Stadt gehe, immer auf, egal was es ist. Kips Mühle, zum Beispiel. Oder die evangelische Kirche, in der Henry und ich geheiratet haben. Oder der Silo, der auf halbem Weg zwischen unserer Farm und der Stadt liegt und auf den die Leute mit Sprühfarbe ihre wichtigsten Mitteilungen schreiben:
WILLIAM CHRISTOPHER BURKE, GEBOREN AM 1. 6. 11
3628 g, 53 cm!
Oder:
ICH LIEBE TINA
Oder:
DIE KLASSE VON 1998! WIR HALTEN ZUSAMMEN,
FÜR IMMER UND EWIG!
Ich schaue jeden Tag diesen Silo an, denn vielleicht hat ja jemand über Nacht eine neue Nachricht draufgesprüht. In meiner Welt gibt es lauter Wahrzeichen, Meilensteine, die mir ans Herz gewachsen sind: eine uralte Kletteneiche mitten in unserem Luzernefeld, ein Eiszeitfindling vor dem Eingang der Highschool, sogar das Fernfahrerlokal am Stadtrand mit seiner alles überragenden Fahnenstange und der überdimensionalen amerikanischen Flagge. Ich weiß immer, wann jemand gestorben ist; ich muss nur auf die Flagge schauen. Ich wusste zum Beispiel sofort, dassder Sohn der Swensons nie mehr aus Afghanistan zurückkehren würde.
Kip fuhr uns mit seinem schwarzen Cadillac Escalade den ganzen Weg zum Flughafen von Minneapolis/St. Paul. Henry saß vorne neben ihm und ich saß mit Ronny und seiner Begleitung auf dem Rücksitz. Sie hieß Lucinda.
»Aber du kannst mich Lucy nennen«, sagte sie fröhlich zu mir, als wir uns vor unserem Haus zur Begrüßung die Hand gaben und dabei Henry und Kip zusahen, wie sie unser Gepäck im Kofferraum des glänzenden SUVs verstauten. An ihrem Arm klimperten so viele Armreifen, dass man sie unmöglich zählen konnte.
»Lucy«, wiederholte ich und sah ihr prüfend ins Gesicht.
Im Licht dieses Freitagmorgens hätte ich wohl nie erkennen können, dass sie eine Stripperin war, wenn Henry mich nicht vorgewarnt hätte. Sie war zweifellos sehr attraktiv; ihr Körper hatte alle nötigen Kurven und Rundungen und ich konnte es mir ehrlich gesagt nicht verkneifen, einen verstohlenen Blick auf ihre feste Brust und den tiefen Ausschnitt zu werfen. Ich wusste, das war kein Wonderbra – ich hatte nach der Geburt der Kinder so einige ausprobiert und es gibt keinen einzigen BH, keine Erfindung, die in der Lage wäre, die Spuren der Zeit, der Schwerkraft und der Mutterschaft zu vertuschen. Lucy war ganz offensichtlich voller Vorfreude auf das Wochenende und daher wollte ich versuchen, mich auch darauf zu freuen. Ich dachte, Es ist doch gut, dass noch eine andere Frau mit dabei ist . Es schien mir immer so, als wäre ich das einzige Mädel, die einzige Frau in dem Trupp von Henrys Junggesellenkumpels. Kips Frau
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