Shotgun Lovesongs
unzählige Ausgaben von National Geographic stapelten, und ergriff mit beiden Händen meine Hand. Es waren zittrige, vogelartige kleine Hände, blau geädert, warm und trocken. Sie schaute mir mit wässrigen Augen in mein rotwangiges Gesicht. »Ihr Bruder spielt wunderschöne Musik«, sagte sie. »Er ist der beste Gitarrist, den ich je gehört habe.«
»Ach, Bea«, sagte Lee lachend. »Jetzt kommen Sie schon, bringen Sie mich nicht in Verlegenheit.«
»Nein«, sagte Bea und zeigte mit dem Finger auf ihn. »Er ist viel zu bescheiden. War er immer schon so? So bescheiden?«
»Immer schon«, sagte ich und nickte theatralisch. »Lee ist nie zufrieden.«
»Nun, das ist wohl keine so schlechte Sache«, sagte Bea. »Nichts macht einen Mann so unattraktiv wie andauernde Angeberei. Mein erster Mann war so. Er konnte ganze Tage damit zubringen, einem zu erzählen, dass seine Fürze nicht stanken. Irgendwann hört man dann einfach nicht mehr zu.«
»Da haben Sie recht«, sagte ich.
»Nun«, sagte sie, »Leland hat gesagt, Sie wären vielleicht von der Reise müde, also habe ich ein Bett für Sie zurechtgemacht. Es ist in dem Zimmer neben meinem. Ich wollte Sie nicht nach oben stecken, zu all den Jungs da. Diese mexikanischen Männer, ich kann Ihnen sagen. Das sind alles harte Arbeiter. Und sehr gute Akkordeonspieler. Aber sie halten sich auch alle für Casanovas. Wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre! Na ja, es hat mich jedenfalls sehr gefreut, Sie kennenzulernen. Und Ihr Bruder ist ein wahrer Engel.«
»Danke«, sagte ich.
»Gute Nacht, Bea«, sagte Lee.
»Gute Nacht, Schätzchen«, rief sie im Weggehen, die Teetasse schon wieder in den Händen, und schlurfte mit ihren Pantoffeln über den alten Holzboden.
»Casanovas?«, fragte ich.
»Äh, ja. Bea vermietet das gesamte Obergeschoss an Farmarbeiter. Ich teile mir das Bad mit ihnen – Joaquin, Ernesto und Garcia. Und es stimmt, sie lieben die Frauen.«
»Zeig mir dein Zimmer«, sagte ich, nahm seinen Arm und hakte mich mutig bei ihm unter. Wir stiegen die knarrenden Treppenstufen hinauf, an Dutzenden von Beas Familienfotos vorbei. Die frühesten Bilder waren in Schwarzweiß und Sepia und dann wurden die Fotos mit den Jahren immer farbenfroher, erst in gedämpften Polaroid-Farben und schließlich gab es leuchtend bunte Bilder, auf denen ihre Enkel oder vielleicht sogar Urenkel zu sehen waren.
»Schwester, eh?«, fragte ich.
Lee wurde rot. »Na ja, ich wollte nicht, dass Bea zu viele Fragen stellt.«
»Aber du bist einfach davon ausgegangen, dass ich hier die Nacht verbringe.«
Wir blieben oben an der Treppe stehen. Plötzlich sah er mich an. »Es tut mir leid. Ich weiß einfach nicht, was im Augenblick los ist, und dann habe ich gehört, dass du und Henry, dass ihr, du weißt schon, euch getrennt habt. Es tut mir leid, echt. Es tut mir wirklich leid.«
»Nein«, sagte ich. »Ist schon okay. Es ist wirklich schön, dich mal wiederzusehen.« Und dann streckte ich die Hand aus und berührte ihn, sein Kinn, seinen Bart. Sein Gesicht unter den Barthaaren fühlte sich abgemagert an. Seine Wangenknochen hoben sich empor wie zwei wundervolle Dünen aus Knochen. »Du isst nicht genug«, sagte ich. Ichhatte ihn nie zuvor auf diese Weise berührt. Es war aufregend.
»Bea versucht, mich etwas aufzupäppeln.«
Ich ließ meine Finger über seine Lippen gleiten. »Gut so.«
»Beth?«
Ich küsste ihn sanft und er erwiderte meinen Kuss. Der Takt meiner Welt schien plötzlich ineinanderzufließen, mein Gesicht fühlte sich so heiß an, dass ich glaubte zu schmelzen. Lee ist groß und ich musste mich auf meine Zehenspitzen stellen. Ich mochte dieses Gefühl, neben einem Mann zu stehen, der größer war als ich.
»Komm«, sagte er. »Ich will nicht, dass du die Treppe runterfällst.«
»Okay.«
Er führte mich den Flur entlang zu einem der Schlafzimmer, aus dem Gelächter, gedämpfte Stimmen und leise gestellte Radiomusik drangen. »Diese Penner«, sagte Leland. »Das tun sie jede Nacht.«
Er schob die Tür des Zimmers einen Spalt auf. Auf dem Boden lagen seine drei Mitbewohner; zumindest nahm ich an, dass sie das waren. Sie hatten sich um ein Risiko-Spielbrett verteilt, während im Radiowecker neben dem Bett die Top-40-Hits liefen. Es hing der Geruch von Bier im Raum und ich konnte mehrere geöffnete Chipstüten und ein paar Dosen mit Nüssen sehen. Sie winkten verlegen zu mir hoch. Mindestens zwei von ihnen hatten Goldkronen im Mund.
»Von links nach rechts: Garcia,
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