Shotgun Lovesongs
eine halbe Stunde oder länger ein erwartungsvolles Stimmengewirr im Raum. Wir hatten schon zwei Gläser Champagner getrunken, als schließlich die ohnehin schon ziemlich vorteilhafte Beleuchtung noch weiter abgedunkelt wurde, bis nur noch eine Art goldenes Sternenlicht zu herrschen schien. Und dann betraten sie den prachtvollen Raum, Lee und Chloe, und alle erhoben sich, als sei gerade der Präsident oder das Königspaar eines fernen Landes erschienen. Ich schaute zu Henry hinüber, um zu sehen, wie er reagierte, und wie viele andere Gäste klatschte auch er, die Augen fest auf Chloe geheftet – auf ihr cremefarbenes Kleid, so eng und hauchdünn, dass es fast ihren gesamten Rücken erkennen ließ, ihre Schulterblätter und ihre langen, yogagestählten Arme. Das Paar ging zu der Bühne an der Stirnseitedes Raumes, ungefähr sechzig oder siebzig Meter von dem Tisch entfernt, an dem wir standen und zusahen.
Der Mann, der die Trauung vollziehen sollte, begrüßte sie auf der Bühne. Er war jung und gutaussehend, trug eine weiße Robe, die zu jeder Religion hätte passen können, und darunter einen Smoking. Sein Gesicht kam mir bekannt vor, und einige Minuten lang hörte ich nicht auf das, was er sagte, sondern strengte meinen Kopf mit aller Macht an, um herauszufinden, wo ich diesen Mann schon mal gesehen hatte, bis mir schließlich klarwurde, dass er den Romeo zu Chloes Julia gespielt hatte. Jetzt hielten Lee und Chloe sich an der Hand. Zwischen ihnen stand ein Mikrofon.
Vielleicht liegt es ja daran, dass ich Mutter bin, daran, dass ich es gewohnt bin, dass meine Kinder mich anlügen oder versuchen, mich anzulügen. Vielleicht auch daran, dass ich schon mein ganzes Leben in der Gesellschaft von Henry und seinen Freunden verbracht habe und mir ihre faulen Ausreden anhören musste, wenn sie zu spät nach Hause kamen, mit schlammverkrusteten Hosensäumen, während ihr Atem nach Brandy stank und auf der Ladefläche unseres Trucks plötzlich lauter leere Aluminiumdosen vor sich hin schepperten. Ich weiß es nicht. Aber ich beobachtete Chloe sehr genau. Ich beobachtete ihre Augen, ihre Schultern, ihre Füße. Sie wirkte irgendwie zu aufgekratzt, zu putzig. Die beiden kicherten die ganze Zeit, während sie ihr Gelübde abgaben – so etwas macht mich misstrauisch. Wenn jemand mal ein bisschen lacht, okay. Aber ständiges Kichern, nein. Diese Worte dort sind ein Eid. Ein Versprechen.
Ich hätte Henry meine Gedanken gerne mitgeteilt, aberich behielt sie für mich. Ich glaube nicht, dass sie es schaffen werden. Ich gebe ihnen ein Jahr oder höchstens zwei , dachte ich. Aber es schien mir irgendwie nicht richtig, das laut auszusprechen, wie sehr ich auch recht haben mochte.
Als das Ehegelübde vorbei war, küssten sie sich, und ich muss zugeben, es war ein sehr überzeugender Kuss, lang und leidenschaftlich und eng umschlungen. Die Hochzeitsgäste waren begeistert und fingen an, mit dem Besteck aus echtem Silber an ihre Gläser zu klopfen. Aber ich muss gestehen, die ganze Zeit, während sie sich umarmten, war das Einzige, was ich dachte: So eine Szene gehört zu ihrem Beruf. Sie ist Schauspielerin .
Lucy lehnte sich zu mir hinüber und sagte: »Es sieht so aus, als könnte er ziemlich gut küssen.«
Ich wurde rot und konnte nichts sagen.
»Tja«, sagte sie. »Ich mein ja nur.«
Wir teilten uns einen Tisch mit Chloes Studienfreunden von der NYU, und weil wir genau in der Mitte des riesigen Raumes saßen, kam es uns so vor, als seien wir die Nabe in einem gewaltigen Rad. Wir drehten die Köpfe, um irgendwelche Berühmtheiten anzustarren, während sie an uns vorbeigingen und dabei manchmal wahrhaftig und tatsächlich ihre Hände auf die Rückenlehnen unserer Stühle legten. Es war ein schöner Abend, wirklich. Als ich es endlich schaffte, mich auf die prunkvolle Veranstaltung einzulassen und das alles einfach nur zu genießen – den vorzüglichen Wein und Champagner, das Essen, die Gesellschaft –, da verging die Zeit wie im Fluge. Es reichte mir vollkommen, neben Henry zu sitzen, Ronny und Lucy zuzusehen und mich einfach nur glücklich treiben zu lassen.
Später am Abend kamen Lee und Chloe an unserenTisch, um uns die Hände zu schütteln und unsere Glückwünsche entgegenzunehmen. Lee schien vor Liebe zu strahlen und seine Augen glänzten vor Glück. Ich sah, wie er Chloe berührte, sie durch den Raum leitete, indem er seine Hand auf ihr Kreuz legte. Er war rührend um sie besorgt. Ich fragte mich, ob sie wohl schon
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