Shotgun Lovesongs
Wing schlendert, in der Wärme der Bibliothek einschläft, eine Zeitung vor sich ausgebreitet, was er dort wohl gelesen hat? Oder wie er sich anbietet, für die Schulmannschaft der Highschool den Footballcoach zu geben, wie er sich gegen die Trainingspuppen lehnt, um den Zusammenstoß beim Tackling aufzufangen, wie ihn die Kinder des Ortes beschützen, ihn behandeln wie einen geliebten Onkel oder einen versehrten Engel. Ronny, wie er sich an einem Dienstagabend einsam fühlt und ins VFW kommt, wo die Barkeeper Bescheid wissen und ihm nur Cola servieren, Schälchen mit Popcorn vor ihn hinstellen und den großen Fernseher an der Decke auf einen Kanal schalten, in dem Rodeos übertragen werden oder Naturfilme aus dem amerikanischen Westen.
»Komm«, sagte ich zu Henry, »ich bin müde. Lass uns gehen.«
Er sah mich an und lehnte sich dann ein wenig zurück, um besser in mein Gesicht schauen zu können. »Bist du sicher?«, fragte er. »Es ist noch früh am Abend. Möchtestdu tanzen? Wir haben noch nicht mal ein Stück von dem Kuchen gegessen.«
»Ich bin sicher. Lass uns gehen. Komm schon, nehmen wir uns ein Taxi.«
Ich küsste Ronny auf die Wange, unendlich glücklich, dass er dort war, mit einer Frau, wie ein ganz normaler Mann, wie die anderen Menschen im Raum, ohne erkennbaren Unterschied zu ihnen. Lucy saß auf seinem Schoß und hatte ihre langen Beine übereinandergeschlagen, so dass sie den Boden nicht berührten.
»Geht schon«, sagte sie. »Ich glaube, wir werden noch etwas bleiben.« Sie scheuchte uns mit einer Hand weg. »Macht euch keine Sorgen – ich pass schon auf den hier auf.«
Vor der Villa entdeckten wir unseren Fahrer zusammen mit drei anderen Chauffeuren beim Würfeln. Auf dem Bürgersteig neben ihnen stapelten sich die Dollarscheine und aus einer der geparkten Limousinen kam das Hämmern lauter Musik. Wir sagten ihm, er solle auf Ronny und Lucy warten und dass wir spazieren gehen würden. Er nahm diese Information gleichgültig entgegen und winkte uns zum Abschied, während er sich schon wieder über den Bordstein beugte und die Würfel geräuschvoll in seiner großen Faust schüttelte.
Wir gingen tatsächlich eine Weile spazieren, sahen den New Yorker Polizisten zu, wie sie sich gegen ihre Streifenwagen lehnten, den Straßenverkäufern, die beim Licht fettiger Glühbirnen das bestellte Essen in Wachspapier oder auf Pappteller schaufelten. Wir sahen den Gästen eleganter Restaurants durch riesige Fensterfronten beim Essen zu; wir beobachteten die Türsteher, die vor den fensterlosen Clubs mit verschränkten Armen Wache hielten; und diejungen Leute: Mädchen, die Cocktailkleider trugen und auf der Pirsch waren, Retro-Hippies mit Secondhandschuhen, hautengen Jeans und ironischen Bärten und Dandys mit Fliege, Leinenhosen und Segelschuhen, die um zehn Uhr nachts noch ihre Ray-Bans auf der Nase trugen.
Ich trat auf die Straße und hielt ein Taxi an – für eine Frau in enganliegender Abendrobe ein Kinderspiel. Ich hielt zwei Finger in die Nachtluft, als wollte ich die Temperatur prüfen, und schob ein Bein im Dreißiggradwinkel vor, während das andere vollkommen gerade meine schräggestellte Hüfte stützte. Henry stand direkt hinter mir, wie ein Junge, den ich im Begriff war abzuschleppen. Mit einer geradezu beunruhigenden Geschwindigkeit kreuzte ein gelbes Taxi im dichten Verkehr drei Spuren, hielt direkt neben uns und stand uns von einem Moment auf den anderen zur Verfügung.
Ich gab dem Taxifahrer einen Hundertdollarschein – ein Geschenk meiner Eltern vor unserer Abfahrt. Mein Vater hatte ihn mir in die Hand gedrückt und gesagt: Habt euren Spaß, ihr zwei, okay? Macht euch keine Sorgen wegen irgendetwas. Habt einfach nur Spaß.
»Machen Sie einfach eine kleine Rundfahrt mit uns«, sagte ich. »Zeigen Sie uns, was ein Tourist in New York gesehen haben sollte. Wir wohnen im Waldorf-Hotel. Wenn unser Geld aufgebraucht ist, lassen Sie uns also einfach dort raus.«
Er nahm das Geld ohne ein Wort entgegen, starrte uns im Rückspiegel an und lenkte dann das Taxi vom Bordstein zurück auf die Straße. Dort schlug er ein Tempo ein, das für eine Sightseeingtour bestens geeignet schien. Ich lehnte mich an Henry, legte meinen Kopf auf seine Brust und spürte seinen Herzschlag.
»Alles okay mit dir?«, fragte er und küsste mich auf den Scheitel. »Du wirkst ein wenig bedrückt.«
»Es geht mir gut«, sagte ich. »Ich glaube, ich möchte einfach nur heim. Zu den Kindern.«
Die Wolkenkratzer
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