Shotgun Lovesongs
wusste, oder ob sie je wissen würde, wie viel Glück sie hatte, ihn zum Ehemann zu haben. Ob sie wohl begriff, was für ein talentierter, liebevoller und zäher Mensch er war. Ich wurde ganz befangen und versenkte schnell das Gesicht in meiner Handtasche, um nach einem Lippenstift oder Pfefferminzbonbons oder irgendwas zu kramen, egal wonach, damit ich die beiden nicht mehr anschauen musste und mich zurück in die Gegenwart versetzen konnte, hier, neben Henry. Dem guten, wunderbaren, anständigen Henry. Henry, dem Vater unserer Kinder. Henry, dem Mann, der Knochenarbeit leistete, der Farmer und Schreiner zugleich war, der im Herbst auf die Jagd und im Frühling fischen ging. Henry, der nur wenige Stunden zuvor mit einem schlimmen Kater geduldig an meiner Seite durch das endlose Labyrinth des Metropolitan Museum gewandert war, der sich mit mir vor zahllose Gemälde, ägyptische Artefakte oder Kunstwerke der Aborigines gestellt hatte und aufmerksam die daneben hängenden Schildchen gelesen hatte. Henry, der mich damit überrascht hatte, dass er, als wir vor einem Warhol-Gemälde standen, sagte: »Ich weiß nicht, vielleicht sollten wir ja etwas Geld sparen. Ein schönes Gemälde kaufen. Etwas, das wir vererben können. Wir haben nicht besonders viel, was die Kinder von uns mitnehmen können. Nichts, das sich zu behalten lohnen würde.« Er schien das Bild tatsächlich eingehend zu betrachten, als wolle er dessen Wert abschätzen.
Ich beschloss, ihn auf die Probe zu stellen. »Was meinst du damit?«, flüsterte ich. »So ’ne Art Jagdszene oder so was? Enten und Adler und so?« Ich hoffte nicht. Ich hoffte sehr, dass es das nicht war.
»Nein«, sagte er. »Ich weiß auch nicht. Vielleicht können wir ja mal nach Minneapolis fahren. In eine Galerie gehen. Ich glaube, ich möchte einfach nur etwas, das sehr grün ist. Damit man im Winter etwas hat, das man anschauen kann.«
Ich dachte: Was für ein unendlich lieber, wunderbarer Mann .
Lee und Chloe standen immer noch auf der anderen Seite des Tisches und widmeten sich Chloes Freunden, schüttelten ihnen die Hände und boten ihnen die Wangen zum Kuss – ein Brauch, der uns Menschen aus dem Mittleren Westen vollkommen fremd war. Nach einer Weile standen wir auf und warteten, die Hände in den Taschen oder vor dem Bauch verschränkt, bis wir an der Reihe waren, Braut und Bräutigam zu umarmen, ihnen zu sagen, wie wunderschön sie aussahen, wie glücklich, und was für ein zauberhafter Abend das hier war.
»Fast hätte ich’s vergessen«, sagte Henry. »Kip und Felicia lassen herzlich grüßen.« Er reichte Lee das kleine Päckchen.
»Soll ich es jetzt aufmachen?«, fragte Lee und runzelte die Stirn.
»Warum nicht?«, sagte Chloe. »Solange wir es später nicht hier liegenlassen.«
»Ja«, sagte Ronny, »mach’s auf, Mann.«
»Wir können es ja bei eurem Fahrer hinterlegen«, bot ich an, »oder es sogar wieder mit zurück nach Wisconsin nehmen, wenn ihr wollt.«
Lee nickte. »Okay.«
Es war ein kleines Schwarzweißfoto von der Mühle, in einem stilvollen Rahmen. Unser Ort sah auf dem Bild ganz anders aus, primitiver und zugleich zivilisierter als heute, mit zwei- und dreistöckigen Backsteinhäusern entlang der Hauptstraße, die zur Mühle führte. Man sah Pferde und Kutschen, Männer in wollenen Dreiteilern und Frauen in langen Kleidern. Jedes Gebäude auf der Fotografie erweckte den Anschein, als könnte und sollte es ewig dort stehen, und doch waren die meisten, wie wir wussten, in den Siebzigern und Achtzigern und manche sogar schon vorher abgerissen worden.
»Du lieber Gott«, sagte Lee. »Schaut euch das an. Mein Heimatort.« Chloe stand neben ihrem Mann und wusste plötzlich nicht mehr, was sie sagen sollte. Sie starrte einfach nur auf das Foto, mit einem Gesichtsausdruck, der zu sagen schien: Also das kommt mir auf keinen Fall an meine Wände . Er reichte uns das Bild, damit wir es uns auch anschauen konnten. Es war Ronny, der die Widmung auf der Rückseite entdeckte. In einer akkuraten, energischen Handschrift stand dort geschrieben: Für Chloe und Leland: Ob in der großen Stadt oder dem kleinen Ort auf dem Lande – wir wünschen Euch alle erdenkliche Liebe und alles Glück auf Erden. In Freundschaft – Felicia & Kip Cunningham.
»Nun«, sagte Chloe, die sich wieder gefangen hatte. »Das ist aber sehr aufmerksam von ihnen. Das hätten sie nicht zu tun brauchen.«
»Ich glaube wirklich, sie geben sich Mühe, wisst ihr? Um, na ja, um bessere
Weitere Kostenlose Bücher