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Shotgun Lovesongs

Shotgun Lovesongs

Titel: Shotgun Lovesongs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nickolas Butler
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huschten an uns vorbei. In diesem Augenblick waren sie für mich alle unsichtbar, waren sie alle gleich.
    »Vielleicht können wir ja ein anderes Mal wieder herkommen,« schlug Henry vor. »Ich weiß nicht, vielleicht im nächsten Frühling? Wir fliegen her und besuchen sie. Das könnten wir jedes Jahr tun. Du könntest nach Herzenslust shoppen. Und ich würde gerne mal zu einem Baseballspiel gehen.« Er schaute zu mir herab, mit angelegtem Kinn. Aus einem solchen Blickwinkel sieht man nur die Menschen, die man liebt – ich sah die Haare in seiner Nase, die Krähenfüße an den Augen, seinen Haaransatz, der mit der Zeit immer weiter zurückwich. Ich zog sein Gesicht zu mir herunter und wir küssten uns.
    Ich gab ihm keine Antwort, schloss einfach nur die Augen, spürte die Straße unter uns, die Ampeln, deren blinkende Lichter über mein Gesicht huschten, Henrys Hände in meinen Haaren.
    Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, bis der Taxifahrer anhielt und mit ausdrucksloser Stimme sagte: »Die Brooklyn Bridge«, als hätten wir sie als Teil unserer Tour gebucht. »Gehen Sie nur«, sagte er. »Schauen Sie sich’s an. Ich warte hier.«
    Wir stiegen aus dem Taxi aus. Die Luft draußen war plötzlich viel wärmer und feuchter. Über uns ragte klobig diese alles beherrschende riesige graue Brücke aus Granit und Stahl auf, Autolichter kamen uns entgegen oder bewegten sich von uns weg, das schwarze Wasser des Flussesplätscherte sanft, ein Schleppschiff tutete, von irgendwoher erklang leises Gelächter.
    »Mr Killebrew hat uns immer gesagt, dass seiner Meinung nach die besten Städte der Welt alle eines gemeinsam haben«, sagte ich und schaute Henry an. »Weißt du noch?«
    Henry nickte und warf einen Stein ins Wasser, obwohl wir seine Flugbahn nicht verfolgen konnten, nicht einmal hören konnten, wie er auf der Wasseroberfläche auftraf. »Ich erinnere mich«, sagte er. »Er liebte Brücken, oder?«
    »Das weißt du noch?«
    Henry nickte und warf noch einen Stein. »Ich hatte damals Angst, es zuzugeben, aber ich mochte ihn sehr. Er hat versucht, mich zu einem Kunststudium zu überreden, kannst du dir das vorstellen?«
    Ich konnte spüren, wie mein Kinn herabfiel und mein Mund plötzlich weit offen stand. Es ist schon seltsam, wenn man so lange mit jemandem verheiratet ist, wenn man einen anderen Menschen so lange schon zum besten Freund hat. Denn bei den wenigen Gelegenheiten, wenn er dich dann überrascht, dann fühlt sich das an, als sei gerade die größte Sache der Welt passiert, als ginge ein Riss durch den Himmel, als wäre der Mond, der über dem Horizont aufgeht, plötzlich zwanzig Mal größer als noch beim letzten Mal, als du hingeschaut hast.
    »Ich hatte keine – davon wusste ich gar nichts«, stotterte ich. »Was hast du denn gemalt?«
    Er trat gegen einen hervorstehenden Pflasterstein. »Ich habe die Mühle gemalt. Traktoren. Einen Bach. Ich weiß auch nicht. Ich glaube, Killebrew wollte einfach nur nett sein.«
    Wir schauten dem Verkehr auf der Brücke zu, standen da, aneinandergelehnt, ohne ein Wort zu sagen.
    »Komm«, sagte Henry nach einer Weile. »Vielleicht fährt er uns ja noch zu einer anderen Brücke.«
    Wir fuhren durch die Stadt, hielten uns an den Händen, gaben uns ab und zu verstohlene Küsse und saßen dann wieder so sittsam nebeneinander wie zwei vollkommen Fremde, während wir aus unseren jeweiligen Fenstern starrten.
    »Kann ich dir was erzählen?«, fragte ich schließlich und durchbrach das Schweigen.
    »Was denn?«
    »Ich glaube nicht, dass sie es schaffen werden. Lee und Chloe.«
    Henry sah mich eingehend an, atmete dann tief aus und schaute in die Stadt hinaus. »Warum nicht?«
    »Ich weiß nicht. Ist nur so ein Gefühl.«
    »Ich habe das Gefühl, dass er nicht zurückkommen wird«, sagte Henry. »Als wäre er schon längst weg.«
    »Das tut mir leid.«
    »Jeder Mensch kommt wohl irgendwann an einen Punkt, an dem er sich nicht mehr so, na ja, so einengen lassen möchte. An dem er sich einen größeren Ort suchen muss. Er kann ja schließlich nicht ewig in Little Wing bleiben, oder? Ich weiß auch nicht.«
    »Es tut mir so leid, Henry.«
    »Wir sind Freunde, seit wir acht Jahre alt waren.«
    »Ich weiß.«
    »Und jetzt ist es so, na ja, es fühlt sich so an, als wäre er ein vollkommen anderer Mensch.«
    »Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie mag«, sagte ich.
    Wir hielten an einer Kreuzung, die in das rote Licht einer Ampel getaucht war. Ein alter Mann schob einen Einkaufswagen

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