Showdown
unklarer Faktenlage zusätzlichen Expertenrat einholen. Es ist völlig legitim und notwendig, dass alle an einem neuen Gesetz beteiligten Gruppen ihre Gedanken und Interessen vortragen dürfen, damit der Abgeordnete dies bei seiner Meinungsbildung berücksichtigen kann. Genau so argumentieren auch die Abgeordneten, und damit haben sie recht. Das funktioniert aber nur, wenn Waffengleichheit herrscht und alle Gruppen dieselben Möglichkeiten haben. Das bedeutet zum einen, dass die Rechte und Einflussmöglichkeiten der normalen Bürger und ihrer Organisationen massiv gestärkt werden müssen und gleichzeitig die Macht der Industrie- und Bankenlobby entscheidend reduziert wird. Dazu gehört als allererster Schritt die Einführung eines seit Jahren geforderten Lobbyregisters, in dem sich alle Lobbyisten registrieren müssen, damit man sieht, wer in wessen Auftrag welche Interessen vertritt. Ein solches Register existiert zwar, aber die Anmeldung und Datenübermittlung ist völlig freiwillig. Das ist in etwa so, als würden Sie am Stadtrand ein Büchlein aufstellen und darum bitten, dass sich alle Falschparker doch hier bitte eintragen mögen. Entsprechend umfangreich fällt auch dieses Register aktuell aus.
Die Abgeordneten behaupten ja, Informationen seitens der Lobbyisten zu benötigen, um eine vernünftige Entscheidungsgrundlage zu haben. Warum finden diese Treffen dann nicht in den Konferenzräumen der Ministerien bei belegten Brötchen aus der Staatskasse statt? Wieso werden solche Informationen in Nobelrestaurants oder während »Bildungsreisen« auf Kosten der Lobbyisten ausgetauscht? Hier entsteht eine völlig überflüssige Abhängigkeit von Einflussnahmen, die mit einem Federstrich unterbunden werden könnte.
Wenn die Lobbyistengespräche in den Ministerien stattfänden, könnte man auch genau dokumentieren, wer wann und wie lange zu welchem Thema seine Interessen und Gedanken vorgetragen hat. Es wäre ein Leichtes, eine Waffengleichheit herzustellen, indem den Vertretern der anderen Interessengruppen wie Verbraucherschutz, NGOs und Gewerkschaften die gleiche Anzahl an Treffen mit dem entsprechenden Abgeordneten oder Sachbearbeiter gesetzlich zugestanden wird. Der Abgeordnete hätte beiden Seiten gleich lange zugehört und alle Argumente abwägen können. Das sind nur wenige von vielen Möglichkeiten, hier mehr Ausgewogenheit und Gerechtigkeit ins Europaparlament einziehen zu lassen.
In diesem Ungleichgewicht zwischen den Interessenvertretungen der Industrie oder anderer mächtiger Gruppen (auch fremde Staaten nutzen die Lobby, um ihre Interessen durchzusetzen) auf der einen Seite und den betroffenen Bürgern auf der anderen besteht die größte Gefahr für das Projekt Europa. Wenn nicht sehr schnell eine radikale Veränderung der Kontrollstrukturen erfolgt, werden sich die Menschen zu Recht in ihrem Hass auf Europa bestärkt fühlen und all die guten Gründungsideen beerdigen. Aktuell verkommt die EU zunehmend zum Selbstbedienungsladen der Industrie, die ihren Einflussüberhang auf aggressivste Weise nutzt, um die Bürger zu übervorteilen.
Ein Beispiel ist die Frage der Trinkwasserprivatisierung. Mit einem wahren Trommelfeuer haben die Lobbygruppen rund um die private Wasserindustrie dafür gesorgt, dass Verordnungen erlassen wurden, die in Europa die Privatisierung ebenjener Trinkwasserversorgung massiv vorantreiben. Bislang war die Versorgung der Bürger mit Trinkwasser eine wesentliche Aufgabe der Gemeinden und Städte selbst. Sie haben die Brunnen und Leitungen betrieben und die Kosten auf die Bürger umgelegt. Eine Gewinnerzielungsabsicht hat es hier nie gegeben, im Gegenteil, häufig mussten Defizite aus anderen Töpfen ausgeglichen werden. Das einzige Interesse der Gemeinden war eine flächendeckende Versorgung der Bürger mit reinstem Trinkwasser. Und es wurde regelmäßig viel Geld investiert, um defekte Leitungen zu sanieren und überhaupt die ganze Wasserinfrastruktur intakt zu halten. Wäre da plötzlich eine braune Brühe aus den Leitungen gekommen, wären die Bürger auf die Barrikaden gegangen und hätten bei der nächsten Bürgermeister- oder Gemeinderatswahl für ordentlich Druck im Kessel gesorgt. Das Gleiche, wenn die Wasserpreise unverhältnismäßig angehoben worden wären. Das ist der Vorteil, wenn eine direkte Einflussnahme und persönlicher Kontakt zwischen den Bürgern und den entscheidenden Politikern besteht. Der Gemeinderat ist ständig in seiner Gemeinde unterwegs und wird beim
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