Showdown
durchaus zu begrüßen, wenn die Wirtschaft hier treibende Kraft hinter einem immer stärker zusammenwachsenden Europa ist. Wenn aber dabei vor lauter Industriefreundlichkeit die Interessen der Menschen, um deren Europa es im eigentlichen Sinne geht, zu kurz kommen, wird es problematisch. Es ist eben nicht korrekt, dass die Interessen der Industrie stets gleichzusetzen sind mit jenen der Bürger. Die Anfänge der Industrialisierung mit ihrer extremen Ausbeutung der Arbeiter im 19 . Jahrhundert – Stichwort Manchester-Kapitalismus – haben gezeigt, was passiert, wenn man die Industrie weitgehend unreguliert wirken lässt in der Hoffnung, der freie Markt werde es schon richten.
Seit Beginn der Industrialisierung gibt es den Machtkampf zwischen jener Industrie auf der einen Seite und den Arbeitern und Angestellten auf der anderen. Es waren die Gewerkschaften als Lobbyorganisationen der Arbeiter, die ein Gegengewicht hergestellt haben zu den Interessen der damals wie heute mächtigen Fabrikbesitzer. Erst dadurch kam es nach vielen Arbeitskämpfen zu einem Gleichgewicht der Kräfte und somit zu einer fairen Entwicklung der Gesellschaft.
Aber wo sind heute die Interessenvertreter der Arbeiter und Angestellten in Europa? Die Industrie wie die Finanzwirtschaft haben große, zigtausend Mann starke Lobbyarmeen mit riesigen Machtmitteln wie Geld und Forschungseinrichtungen in Brüssel stationiert. Wo sind die Lobbyarmeen der Menschen? Es sind kleine Guerillatruppen wie Verbraucherverbände, kritische Internetseiten und schlecht ausgerüstete NGOs (Nichtregierungsorganisationen). Ein erbärmlicher Haufen im Vergleich zu den Lobbytruppen. Es wird höchste Zeit, hier ein ähnliches Gegengewicht zu schaffen, wie es die Gewerkschaften einst waren. Dann, und nur dann, kann dieses Europa ein faires Europa werden, das die Interessen aller seiner Mitglieder gleichermaßen berücksichtigt. Die Politiker und die EU -Institutionen sind am Ende diejenigen, die unter Abwägung der Interessen aller Parteien eine neutrale und ausgewogene Entscheidung treffen müssen, die eine faire Gesellschaft hervorbringt. Eine Gesellschaft, in der sich jeder frei entwickeln kann, solange er die anderen und das große Ganze nicht schädigt oder gar gefährdet. Das kann nicht funktionieren, wenn die eine Partei große Goldklumpen in die Waagschale legen kann und die anderen nichts als ein paar Petitionen auf Umweltschutzpapier haben, um ihrer Waagschale Gewicht zu verleihen.
Inzwischen sollen sich in Brüssel zwischen 15 000 und 27 000 Lobbyisten tummeln. So genau weiß es niemand. Das bedeutet, dass auf einen Abgeordneten mindestens 20 Interessenvertreter kommen, deren einzige Aufgabe es ist, die Abgeordneten mit allen legalen und gerne auch halblegalen Mitteln im Sinne ihrer Auftraggeber zu beeinflussen. Hier darf man sich keine aggressiven Monsterhorden vorstellen, sondern charmante, psychologisch bestens geschulte Experten, die mit großen Geldsummen ausgestattet sind, um die politische Willensbildung der Abgeordneten zu beeinflussen. Da ist die Einladung zum Fachgespräch im Luxusrestaurant – der Abgeordnete hat ja ein Interesse, sich umfassend zu informieren –, die Studienreise mit angehängtem Freizeitprogramm, die freundliche Finanzierung des nächsten Abgeordnetenempfangs und so weiter, und so weiter. Wenn der unbedarfte Abgeordnete nun zum 37 . Mal beim gemütlichen und netten Mittagessen erfährt, was für ein toller Segen für die Menschen, die Umwelt und die Arbeitsplätze in seinem Wahlkreis diese wunderbaren neuen Energiesparlampen sind, die doch so viel weniger Strom verbrauchen, glaubt man es irgendwann gerne. Wenn er dann noch die siebte wissenschaftliche Studie eines seriös klingenden Forschungsinstituts erhält, dessen Finanzierung und Auftraggeber er kaum durchschauen kann und in der diese Fakten mit vielen unverständlichen Formeln belegt werden, dann ist er am Ende vielleicht bereit, die Hand an der richtigen Stelle der Abstimmung zu heben. Welche Wirkung hat da die unbeholfene handschriftliche Petition der pensionierten Lehrerin aus Wanne-Eickel oder der kleine DIN-A6-Zettel, den ihm ein Attack-Aktivist auf dem Weg ins Büro in die Hand drückt? In der Regel verschwindet derlei Umweltschutzpapier ungelesen im nächsten Papierkorb. Da kann doch nichts Bedeutsames draufstehen, was der Qualität der Erkenntnisse der 170 Hochglanzseiten aus dem hohen Forschungshause entspricht, oder?!
Wie soll der Abgeordnete die leisen Stimmen
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