Shutdown
Schmunzeln. »Jen. Freut mich, Jerry.«
Er blühte auf. »Sind Sie eine Kollegin von Claire?«, fragte er mit gedämpfter Stimme, damit es die Tannen nicht hörten.
»Claire? Wer ist Claire?«
Er musterte sie überrascht, dann kehrte das Grinsen auf sein Gesicht zurück. »Verstehe«, sagte er und nickte verständnisvoll dazu. »Ich will nicht stören. Wenn was ist, ich bin gleich nebenan. Man sieht sich.«
Er winkte und stapfte davon.
Was war das denn? , dachte sie verblüfft. Möglicherweise war dies kein Disney-Märchen, sondern einfach der falsche Film? Zur Sicherheit schloss sie die Tür des Campers von innen ab. Sie stand in einer Wohnung, die ohne Weiteres in Rebeccas Haus gepasst hätte: falsche Marmor-Fliesen, weiße Ledersofas, etwas zuviel Holz und ein fünfzig Zoll Flachbildschirm. Der Wäscheschrank im Schlafzimmer roch hellblau, wie die Besitzerin des Wohnmobils. Sie warf den Sack aufs Bett und suchte den Computeranschluss. Beim Einsteigen hatte sie die Parabolantenne auf dem Dach bemerkt. Sie war auffällig größer als notwendig fürs Fernsehprogramm. Den Grund erfuhr sie, nachdem sie den Computer im Arbeitsraum neben dem Cockpit eingestöpselt und den Hauptschalter gedreht hatte. Es gab zwar ein brauchbares WLAN, aber das LAN-Kabel stellte sich als die bessere Option heraus. Der Camper verfügte über eine ultraschnelle Satellitenverbindung zu einem Provider an der Ostküste.
»Was sagt man dazu«, murmelte sie lächelnd.
Sie verlor keine Zeit und setzte sich nach einem Kontrollblick aus dem Fenster an den Laptop. Draußen gab es nur Nadelholz und Vogelgezwitscher, Natur. Nichts, was sie im Moment interessierte. Sie stellte die verschlüsselte Verbindung zu Lindas Proxyserver her, bearbeitete die Mail und überflog die News-Seiten, Blogs und Tweets, die sie zum Leben brauchte wie andere die Luft zum Atmen. Nachrichten von ihrer Familie aus der Fabrik gab es keine. Sie hatten mindestens einen Monat Funkstille vereinbart als Vorsichtsmassnahme. Dennoch fand sie neue Beiträge von Pseudonymen, die sie kannte. Jezzus wurde nicht müde, ›PACTA‹ zu bekämpfen, obwohl er auf verlorenem Posten stand. Nach dem Senat empfahl das House Committee den Entwurf nun ebenfalls fast einstimmig zur Annahme. Wenn nicht bald ein Wunder geschähe, würde der Albtraum aller Kämpfer für die Freiheit des Individuums und des Internets zum Gesetz. Neben Jezzus waren auch Mike und Linda wieder aktiv, nur von Emma fand sie keine digitale Spur, was sie nicht überraschte. Emma war auch im Netz die Schweigsame. Jen hinterließ eine kurze Nachricht unter ihrem Kürzel ›Janus‹ als Lebenszeichen für die Familie, bevor sie sich dem Datendschungel auf ›Titan‹ widmete.
Die IP-Adresse der ›Black Hats‹, die sie ›TNN‹ und damit den Cops auf dem Präsentierteller geliefert hatten, führte offenbar in eine Sackgasse, aus der die Polizei nicht herausfand. Die Hacker, die den Shutdown, den Totalausfall von halb Kalifornien auf dem Gewissen hatten, waren ebenso clever wie brutal, definitiv eine Nummer zu groß für durchschnittliche IT-Spezialisten. Die ›Black Hats‹ konnten jederzeit an einem andern Ort wieder zuschlagen. Das wollte sie verhindern. Das würde sie verhindern, glaubte sie. Schwierig ohne Emma, aber sie musste es tun, nur schon, um die andere Geschichte zu verdrängen.
Eine Bewegung draußen vor dem Seitenfenster lenkte sie ab. Jerry hievte seine Golfeisen aus dem Auto. Dabei blickte er wie zufällig in ihre Richtung. Sie reagierte einen Sekundenbruchteil zu spät. Ihre Blicke trafen sich, er winkte mit strahlendem Gesicht, dass ihr nichts anderes übrigblieb, als ihm auch für einen Augenblick ihre Zähne zu zeigen. Ärgerlich wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Kaum war er in seinem Camper verschwunden, schloss sie sämtliche Fensterläden. Vielleicht verstand ihr Nachbar diese deutliche Zeichensprache.
›Titan‹ war zu neunzig Prozent belegt. Neunhundert Gigabytes, die sie in den Servern der ›CGO‹-Zentrale und im Netz des Grid Operators, in den Rechnern der Umspannwerke und Schaltsysteme gesammelt hatten. Daten, die eine Million dicke Bücher füllen würden. Selbst bei geschlossenen Läden brauchte sie eine gute Stunde, um sich einen Plan für die weitere Auswertung zurechtzulegen. Für den Ward Report hatten sie sich im Wesentlichen auf die Übermittlungs-Logfiles konzentriert. Die belegten etwa zwanzig Prozent des Speicherplatzes. Weitere dreißig Prozent benötigten
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