Shutdown
Rebecca. Sie fühlte sich verloren. Die einzig logische Erklärung war, dass Rebecca ein dunkles Geheimnis verbarg, und daran wollte sie nicht glauben. Die Zweifel waberten dennoch durch ihr Hirn wie die Nebelschwaden durch den morgendlichen Wald. Sie konnte nicht mehr klar denken, das war ihr Problem. Dafür gab es einen einfachen Grund: Vitaminmangel. Sie brauchte Vitamin C, ganz klar. Ihre Ernährung war zu einseitig auf Kohlenhydrate und Eiweiße ausgerichtet seit der Flucht in die Berge. Wenigstens ein Problem gelöst , dachte sie, erfreut über den kleinen Fortschritt. Sie erinnerte sich, in einer Schublade Röhrchen mit Vitamintabletten gesehen zu haben. Die pharmazeutische Variante eignete sich ihrer Meinung nach am besten, den Mangel rasch, mit der nötigen Präzision und ohne unnötigen Abfall zu beheben.
Sie durchsuchte zuerst die Schubfächer im Wohnzimmer. Die ersten zwei waren leer. Im Dritten lagen alte Magazine. Sie hatte es schon wieder geschlossen, als die Neugier sie zwang, das Fach nochmals zu öffnen. Aus einem der Magazine war ein Kärtchen herausgerutscht, eine rosa Visitenkarte mit der Aufschrift: Claire. Der Anblick versetzte ihr einen Schock. Ihre Hand zuckte zurück, als glühte der Griff der Schublade. Nach kurzem Zögern nahm sie das Kärtchen heraus. Auf der Vorderseite stand nur der Name, der sie seit der Ankunft verfolgte wie die Tannen auf der Fahrt hierher, in eleganter Kursivschrift, weiß auf rosa Grund. Die Rückseite war leer bis auf die diskret in eine Ecke platzierte Telefonnummer und die Angabe der Geschäftszeiten. Betrog sie Rebecca mit Claire? Ein irrer Gedanke. Zwischen Rebecca und ihr bestand keine solche Beziehung, schon gar keine exklusive. Ihre linke Gehirnhälfte wusste das, aber sie war vernebelt. Vitaminmangel. Ein paar Synapsen funktionierten allerdings noch. Die neuronalen Sparflammen wiesen sie auf eine zweite Möglichkeit hin, die sie nicht weniger erschreckte. Sie vergaß die Vitamintabletten, hetzte stattdessen zum Computer zurück. In aller Eile druckte sie Rebeccas Portrait aus, das sie heimlich mit dem Handy geschossen hatte, dann rannte sie zu Jerry hinüber und klopfte an seine Tür.
»Hi! «, rief er überrascht.
Leicht errötend strahlte er sie an, denn er stand in karierten Shorts vor ihr, auf kalkweißen Beinen, die zum ersten Mal die Sonne erblickten.
»Hi«, wiederholte er, »nicht mehr an der Arbeit?«
»Doch«, antwortete sie und meinte es auch so. Sie hielt ihm das Foto hin und fragte ohne Umschweife: »Ist das Claire?«
Er erkannte sie sofort. Sein Gesicht verriet ihn, bevor er den Mund öffnete.
»Ja, das ist sie. Aber warum fragen Sie? Sie müssen sie doch kennen.«
»Hat sie für Sie gearbeitet?«
Er grinste wie bei der ersten Begegnung.
»Verstehe«, sagte er, während er sie musterte, als zweifelte er am Ernst ihrer Frage. »Nein«, fügte er schließlich hinzu. »Sie arbeitet hin und wieder für einen meiner Kunden.«
»Ein Kunde.«
»Ich betreibe eine Sicherheitsfirma unten an der Bay. Objektschutz, Nachtportiers für Großkunden, so was halt.«
»Oh – danke.«
Damit drehte sie sich um und rannte zu Rebeccas Wohnmobil zurück. Im Wohnzimmer ließ sie sich mit einem leisen Seufzer aufs Sofa fallen. Sie wünschte, die chaotischen Gedanken, die den Nebel verdrängt hatten, würden sich schnell wieder ordnen. Claire war Rebecca. Rebecca war Claire. Was sollte sie davon halten? Sie wagte nicht, sich vorzustellen, welche Art Geschäfte Claire mit Jerrys Großkunden betrieb. Und mit Steve Duncan, dem viel beschäftigten Schmutzfink. Nach Bankgeschäften sah die Visitenkarte nicht aus. Rebecca hatte sie angelogen. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Sie führte ein Doppelleben. Wusste Frank davon? Beide Antworten auf diese Frage hörten sich nicht gut an. Sie wusste nicht mehr, wem sie trauen konnte. Das Gefühl, verloren zu sein, kehrte zurück. Sie stand buchstäblich allein mitten im Wald, wo der böse Wolf hinter jeder Tanne lauerte. Sie brauchte keine Vitamine, nur noch Wasser, um die aufsteigende Übelkeit zu bekämpfen. Halb benommen wankte sie ins Bad.
»Fuck!«, fauchte sie ihr Spiegelbild an. »So eine verdammte Scheiße!«
Unbeweglich starrte sie sich an und überlegte sich, mit wem sie hadern sollte. Mit sich selbst, weil sie so naiv war und Rebecca vertraut hatte, ohne sie zu kennen? Was heißt schon kennen , dachte sie bitter. Wer kannte sie? Die Klingel des Handys schreckte sie aus den düsteren Gedanken auf.
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