Shutdown
hatten die internen Machtkämpfe bei ›TNC‹ und die dubiosen Geschäfte mit den ›Black Hats‹ zu tun? Sie begann zu zweifeln, ob überhaupt ein Zusammenhang bestand. Pat Farmers vertraulicher Report war möglicherweise auf krummen Wegen auf Carmen Tates Telefon gelangt. Sie konnte ihn wohl nicht entschlüsseln. Der Mailverkehr zwischen Tate und Farmer war vor vier Jahren unvermittelt abgebrochen. Jen fand nur noch eine spätere Nachricht an Tate, in der ihr zur Beförderung gratuliert wurde mit dem Hinweis, der ›Kaktus‹ fände nun genug Zeit zum Malen.
Sie suchte im Web nach weiteren Informationen über Pat Farmer. Ihr Bild von Tates damaliger Chefin bestätigte sich. Bis vor vier Jahren war sie ein hohes Tier bei ›TNC‹, dann verschwand sie von der Bildfläche, als hätte sie sich tatsächlich in einen anonymen Kaktus verwandelt. Ein Grund mehr, mit der Frau zu sprechen, bevor sie sich Carmen Tate vornahm. Ohne zu zögern, wählte sie die Nummer des einzigen Menschen, der ihr bei der Suche nach Pat Farmer helfen konnte.
»Jen – wo zum Teufel steckst du?«, fragte Franks verschlafene Stimme.
»Habt ihr ihn?«
»Adam? Nein.«
»Hat er sie ...?«
»Rebecca hat sich beim Sturz das Genick gebrochen. Die Kollegen vermuten, dass sie vor ihm geflohen ist. Technisch ist es ein Unfall, kein Mord oder Totschlag.«
»Technisch«, wiederholte sie bitter.
Sie verdrängte die quälenden Gedanken an Rebecca schnell wieder und kam ohne Umschweife auf den Punkt:
»Ich brauche deine Hilfe.«
»Warum würdest du den alten Frank auch sonst anrufen?«
»Entschuldige, war nicht so gemeint.«
»Das glaube ich dir sogar«, lachte er, »aber bevor ich nochmals das Gesetz breche für dich, muss ich endlich wissen, was eigentlich los ist.«
Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm den großen Bogen der Geschichte zu schildern. Wenigstens bis er verstand, weshalb sie Pat Farmer sprechen wollte.
»Ihre Spur verliert sich in Santa Fe«, sagte er, sobald sie geendet hatte.
Beinahe wäre ihr das Handy entglitten. »Wie bitte?«
»Pat Farmer soll in der Gegend von Santa Fe untergetaucht sein.«
»Wieso – woher ...«
»Ich bin ein Cop, schon vergessen?«
Verblüfft vernahm sie von seinen Recherchen über die Frau, die sie suchte.
»Das ist alles, was ich über Pat Farmer herausfinden konnte«, schloss er. »Wie geht's jetzt weiter? Wo bist du eigentlich?«
»Bald in Santa Fe.«
Vielleicht war Pat Farmer längst weitergezogen, falls sie überhaupt noch lebte. Das Risiko musste sie eingehen. Nach einem Blick auf die Uhr packte sie hastig den Laptop in die Tasche und eilte hinaus zu Emma. Sie saß mit geschlossenen Augen auf der Mauer, wo sie selbst gewartet hatte, das Notizbuch auf den Knien und kaute an ihrem Bleistift.
»Kaffee?«, fragte sie, ohne die Augen zu öffnen.
»Keine Zeit, sorry. Ich muss zurück aufs Schiff.«
»Selbstverständlich«, lächelte Emma.
Jen begriff die Ironie erst nach ein paar Schritten auf der Straße zum Hafen. Sie drehte sich nochmals um, winkte ihrer Freundin zum Abschied zu und rief: »Danke.«
Kapitel 10
Santa Fe, New Mexico
Jen ließ sich erschöpft auf die Parkbank fallen. Das lebhafte Treiben auf der Plaza und rund herum in den Laubengängen der Adobe-Häuser begann an ihrem Selbstvertrauen zu kratzen. Je ratloser sie die Menschen in diesem großen Pueblo in den Bergen New Mexicos beobachtete, desto ausgelassener schienen sie um sie herumzutanzen. Ihr Plan für Santa Fe bestand nur aus zwei Punkten: eine billige Bleibe für zwei, drei Nächte und Pat Farmer zu finden. Noch nicht einmal Punkt eins konnte sie abhaken, nachdem sie den ganzen Vormittag erfolglos in der Stadt umhergeirrt war. Kein einziges freies Zimmer gab es, unabhängig vom Preis. »Indian market week«, war die lakonische Antwort, wo immer sie fragte. Sie sah allmählich rot. Rot wie die verdammten Lehmziegel um sie herum.
Die halbe Stadt hatte sie mit ihren Fragen nach Pat Farmer belästigt. Weder auf der Post noch in den unzähligen Galerien, den Lebensmittelläden, Restaurants oder bei den Apachen und Mescaleros, die ihr Kunsthandwerk im Freien anboten, kannte man diese Frau. Die einzige Patty Farmer war gerade sechzehn geworden. Herzliche Gratulation. Gestrandet in Santa Fe wie die Dampflok auf dem toten Gleis, das nirgends mehr hinführte seit der Amtrak unten im Tal an der Stadt vorbeifuhr. Ihr Seesack war offenbar um einiges schlauer als sie. Er verzichtete auf die Reise nach Santa Fe
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