Shutdown
Hagel beruhigte sich die Wetterlage. Am Mittag würden die fast senkrecht in den Fjord abfallenden Felswände wieder in der Sonne glühen, als wollten sie das unergründliche Blau in der Schlucht ausleuchten. Heute konnte sie es wagen, den mythischen Weg übers Wasser zu nehmen statt des beschwerlichen Fußwegs.
Sie schulterte den Rucksack, kraulte jede ihrer vierbeinigen Freundinnen zum Abschied am Kinn und ging auf die steile Treppe zu, die in engen Windungen die Felswand hinunter führte. Sechs Meter über dem Wasser endeten die Stufen. Für den letzten Teil des Abstiegs brauchte sie die Leiter, die am Fels festgezurrt auf dem schmalen Grasband lag. In alten Zeiten, als dieser Weg der einzige Zugang zum Hof war, diente das Hochziehen der Leiter dem Schutz vor ungebetenem Besuch, besonders vor Steuereintreibern, wie man Touristen einredete. Vorsichtig stieß sie die Leiter über die Klippe, hängte sie an der Verankerung ein und stieg ins Schlauchboot hinunter. Der Wind war abgeflaut. Nur die Bugwelle eines frühen Kreuzfahrtschiffs kräuselte das Wasser. Sie zerrte kräftig an der Startschnur. Der Motor sprang an, und bald tuckerte sie gemächlich hinter dem weißen Giganten her. Sie brauchte sich nicht zu beeilen. Die erste Stunde mit ihren Schülern begann um zehn. Langsam verschwand der Gischtschleier der ›Sieben Schwestern‹ hinter der Biegung. Die verstreuten Häuser von Geiranger am Ende der Bucht tauchten auf, mit lockerem Pinsel hingetupft auf die sattgrüne Wiese am Fuß des Dalsnibba. Einzig die paar Hotelkästen, die wie gestrandete Ozeanriesen am Hafen standen, gehörten ihrer Meinung nach nicht an diesen Ort. Andererseits sorgte der stetige Strom neugieriger Touristen für beachtliche Umsätze mit ihrem handgefertigten Ziegenkäse, also behielt sie ihre Kritik für sich.
Wie gewohnt vertäute sie das Boot an der Mole der kleinen Marina. Der Laden, in dem sie kaufte, was sie nicht selbst produzierte, befand sich in der Nähe.
»Hast du den Käse vergessen?«, fragte der Händler an der Kasse enttäuscht, als sie ihre Käufe einpackte. »Wir brauchen dringend Nachschub.«
»Ich richte es den Damen aus«, lachte sie. »Die letzte Produktion muss noch einige Tage lagern. Nächsten Mittwoch gibt’s wieder Käse, versprochen.«
»Du solltest mehr Viehzeug anschaffen«, rief er ihr nach, als sie den Laden verließ.
»Kein Platz.«
Es war nichts als die Wahrheit. Das Stückchen Land bot gerade genug Grünfutter für ihre Damen, nicht mehr. Ihr Postfach befand sich gleich neben dem Laden. Seit der Rückkehr nach Norwegen lebte sie so zurückgezogen, dass das Fach an manchem Mittwoch leer war, wie heute. Sie grüßte die Posthalterin und wollte das Haus verlassen, aber die Frau winkte sie an den Schalter.
»Vielleicht ist es wichtig«, sagte sie. »Heute Morgen hat sich jemand nach dir erkundigt.«
»Nach mir? Bist du sicher? Wer?«
»Sie hat sich nicht vorgestellt.«
»Sie?«
Die Posthalterin beschrieb eine junge Frau, die sie sehr gut kannte.
»Unmöglich«, murmelte sie und schüttelte den Kopf, um das schöne Trugbild loszuwerden. Jen in Geiranger – absurd.
»Ich habe ihr den Weg beschrieben, aber vorgeschlagen, sie solle in der Schule warten. Ich hoffe, das war in Ordnung?«
»Ja ja, danke«, murmelte sie benommen.
Jen saß auf der Mauer neben dem Eingang zum Schulhaus. Sie hatte sich nicht im geringsten verändert, als hätte sie sich hier durch Teleportation direkt aus der Fabrik materialisiert. Jen starrte sie an wie ein Wesen aus einer andern Welt, was sie jetzt im Grunde auch war.
»Emma?«, fragte sie, als traute sie ihren Augen nicht. »Was ist mit dir passiert?«
Direkt und ehrlich wie früher. Sie hatte sich wirklich nicht verändert, dachte Emma schmunzelnd. »Ich war beim Friseur.«
»Aber die Kleider und alles ...«
»Stimmt, die Kleider habe ich auch gewechselt. Schwarze Seide war zu auffällig in dieser Gegend. Ich freue mich, dass du da bist.«
»Du riechst wie die Wiese – und nach Stall.«
»Zum Glück hat niemand sonst deine Nase«, lachte Emma. »Was treibt dich hierher?«
»Ich brauche deine Hilfe beim Entschlüsseln.«
Die Antwort beruhigte sie. Wäre Jen wie die Touristen auf den Postschiffen der Hurtigruten wegen der grandiosen Fjordlandschaft hierher gereist oder einfach, um die alte Freundin zu besuchen, hätte sie sich ernsthafte Sorgen gemacht.
»Meine Stunde fängt gleich an. Über Mittag können wir uns ausführlich unterhalten. Sag mir einfach
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