Shutter Island
ein.
Sie enthielt Medizin für sechs Monate, und Dolores hatte sie ausgetrunken.
Er sah, wie sie die Stufen zum Pavillon hinaufstolperte, auf die Knie fiel und sich wieder erhob.
Wie war sie an die Flasche gekommen? Das Schloss am Kellerschrank war kein gewöhnliches. Nicht einmal ein starker Mann mit einem Bolzenschneider konnte es öffnen.
Knacken konnte sie es nicht, und Teddy besaß den einzigen Schlüssel.
Er sah, wie sie sich auf die Schaukel im Pavillon setzte, dann blickte er auf die Flasche. Er konnte sich erinnern, dass er am Abend vor seiner Abfahrt genau hier gestanden, die Flüssigkeit teelöffelweise in das Fläschchen aus dem Apothekerschrank gefüllt und sich selbst dabei ein, zwei Glas genehmigt hatte. Er hatte auf den See geschaut, die kleinere Flasche ins Wandschränkchen gestellt, war nach oben gegangen, um sich von den Kindern zu verabschieden, war wieder heruntergekommen, weil das Telefon klingelte, hatte den Anruf von der Dienststelle entgegengenommen, sich anschließend Mantel und Reisetasche geschnappt, Dolores an der Tür einen Kuss gegeben und war zu seinem Auto gegangen …
… und hatte die große Flasche auf der Küchentheke stehen lassen.
Durch die Fliegentür ging er nach draußen, lief über den Rasen zum Pavillon und stieg die Stufen hinauf. Sie sah ihm entgegen, völlig durchnässt, hing in der Schaukel, ließ ein Bein baumeln, gab sich mit dem anderen Schwung.
»Schatz, wann hast du das alles getrunken?«, fragte er.
»Heute Morgen.« Sie streckte ihm die Zunge raus, dann lächelte sie verträumt und schaute zur gewölbten Decke hoch. »Aber war nicht genug. Kann nicht schlafen. Will einfach nur schlafen. Bin so müde.«
Hinter ihr im See trieben Baumstämme, und er wusste, dass es kein Holz war, dennoch wandte er den Blick ab und sah seine Frau an.
»Warum bist du müde?«
Sie zuckte mit den Schultern, schüttelte die Hände aus. »Macht mich alles so müde. So müde. Möchte nur nach Hause.«
»Du bist zu Hause.«
Sie wies hoch zur Decke. »Ganz nach Hause«, sagte sie.
Wieder schaute Teddy zu den Baumstämmen hinüber, die sanft im Wasser trieben.
»Wo ist Rachel?«
»Schule.«
»Sie ist noch zu jung für die Schule, Schatz.«
»Nicht für meine«, sagte seine Frau und zeigte ihm die Zähne.
Da schrie Teddy auf. Er schrie so laut, dass Dolores aus der Schaukel fiel, er sprang über sie hinweg, sprang über das Geländer auf der Rückseite des Pavillons und rannte schreiend los, schrie nein, schrie Gott, schrie bitte, schrie nicht meine Kinder, schrie Jesus, schrie oh oh oh.
Er warf sich ins Wasser. Rutschte aus, fiel vornüber, ging unter, das Wasser umschloss ihn wie Öl, er schwamm weiter, immer weiter, und tauchte mitten zwischen ihnen auf. Inmitten der drei Baumstämme. Inmitten seiner Kinder.
Edward und Daniel trieben mit dem Gesicht nach unten, aber Rachel lag auf dem Rücken, sie hatte die Augen geöffnet und schaute hoch zum Himmel. Mit der Einsamkeit ihrer Mutter in den Augen, suchte sie die Wolken ab.
Nacheinander trug er sie aus dem Wasser und legte sie ans Ufer. Er ging behutsam mit ihnen um. Hielt sie fest, aber sanft. Er konnte ihre Knochen fühlen. Er streichelte ihre Wangen. Er streichelte ihre Schultern, die Brust, die Beine, die Füße. Er küsste sie viele Male.
Dann fiel er auf die Knie und übergab sich, bis ihm die Brust brannte und der Magen leer war.
Er verschränkte die Arme der Kinder vor der Brust und sah dabei, dass Daniel und Rachel Fesselspuren an den Handgelenken hatten. Da wusste er, dass Edward der erste gewesen war. Die anderen beiden hatten warten müssen, alles gehört und gewusst, dass sie als nächstes an der Reihe waren.
Noch einmal küsste er jedes Kind auf beide Wangen und die Stirn, dann schloss er Rachels Augen.
Hatten sie sich gewehrt, hatten sie gestrampelt, als Dolores sie zum See trug? Hatten sie geschrien? Oder hatten sie es stöhnend, resigniert mit sich geschehen lassen?
Er sah seine Frau in dem violetten Kleid vor sich, in dem er sie kennen gelernt hatte, er sah ihren Gesichtsausdruck in dem Moment, als sie ihm zum ersten Mal aufgefallen war, der Gesichtsausdruck, in den er sich verliebt hatte. Er hatte gedacht, es läge nur am Kleid, an ihrer Unsicherheit, so ein schickes Kleid in so einem schicken Nachtclub zu tragen. Aber das war es nicht gewesen. In Ihrem Gesicht stand Angst, kaum gezügelte Angst, und sie war immer da. Sie hatte Angst vor allem – vor Zügen, Bomben, ratternden Straßenbahnen,
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