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Shutter Island

Titel: Shutter Island Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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entschwinden. Bibbys trockener Husten, Treys langes, lautes Gähnen, als er sich streckte, und das Hochziehen des Rollos ließen Dolores’ Geruch verfliegen.
    Teddy fragte sich – und zwar nicht zum ersten Mal, alles andere als das –, ob dies der Tag sein würde, an dem ihn die Sehnsucht nach ihr endgültig übermannen würde. Wenn er die Zeit zum Morgen des Brandes zurückdrehen und an Stelle von Dolores zu Hause bleiben könnte, er würde es sofort tun. Das stand fest. Das stand immer schon fest. Aber während die Jahre vergingen, fehlte Dolores ihm nicht weniger, sondern immer mehr, und seine Sehnsucht nach ihr wurde eine Wunde, die nicht vernarben wollte, die nicht aufhören wollte zu bluten.
    Ich habe sie umarmt, wollte er Chuck, Trey und Bibby sagen. Ich habe sie festgehalten, Bing Crosby hat aus dem Küchenradio gesungen, ich konnte sie und das Apartment auf der Buttonwood und den See riechen, wo wir in jenem Sommer waren, und ihre Lippen haben meine Fingerknöchel gestreift.
    Ich habe sie umarmt. Das kann mir diese Welt nicht geben. Diese Welt kann mich nur an das erinnern, was ich nicht habe, nicht haben kann, so lange nicht gehabt habe.
    Wir hätten zusammen alt werden sollen, Dolores. Hätten Kinder haben sollen. Spaziergänge unter alten Bäumen machen. Ich wollte zusehen, wie sich deine Haut in Falten legt, wollte jede einzelne Runzel kennen. Mit dir zusammen sterben.
    Nicht das hier. Das nicht.
    Ich habe sie umarmt, wollte er sagen, und wenn ich genau wüsste, dass ich nur sterben müsste, um sie wieder umarmen zu können, dann könnte ich mir die Pistole nicht schnell genug an den Kopf setzen.
    Chuck sah ihn wartend an.
    »Ich hab Rachels Code geknackt«, sagte Teddy.
    »Ach«, sagte Chuck. »Mehr nicht?«

ZWEITER TAG Laeddis

7
    CAWLEY ERWARTETE SIE in der Eingangshalle von Station B. Sein Gesicht und seine Kleidung waren nass, er sah aus, als hätte er die Nacht auf der Bank einer Bushaltestelle verbracht.
    Chuck sagte: »Ich verrate Ihnen ein Geheimnis, Doktor Cawley: Wenn man sich hingelegt hat, macht man die Augen zu.«
    Cawley wischte sich mit dem Taschentuch übers Gesicht. »Ach, das ist das Geheimnis? Ich wusste doch, dass ich was vergessen habe. Die Augen zumachen, sagen Sie. Gut.« Sie stiegen die gelb verfärbte Treppe hoch und nickten dem am ersten Treppenabsatz postierten Pfleger zu.
    »Und wie ging es Dr. Naehring heute Morgen?«, fragte Teddy.
    Müde hob Cawley die Augenbrauen. »Ich entschuldige mich für ihn. Jeremiah ist ein Genie, aber ein wenig bessere Manieren könnten ihm nicht schaden. Er möchte ein Buch schreiben über die Kriegerkultur im Spiegel der Jahrhunderte. Ständig bringt er sein Steckenpferd in die Unterhaltung ein und versucht, Menschen in die von ihm aufgestellten Kategorien einzuordnen. Es tut mir wirklich Leid.«
    »Machen Sie das öfter?«
    »Was denn, Marshal?«
    »Ein Gläschen trinken und, ähm, Leute sondieren?«
    »Berufsrisiko, würde ich sagen. Wie viele Psychiater braucht man, um eine Glühbirne einzuschrauben?«
    »Keine Ahnung. Wie viele?«
    »Acht.«
    »Warum?«
    »Ach, müssen Sie denn alles analysieren?«
    Kurz sah Teddy Chuck an, dann lachten beide.
    »Ein Psychologen-Witz«, sagte Chuck. »Wer hätte das gedacht?«
    »Wissen Sie, in welchem Zustand sich das Fachgebiet der Psychiatrie momentan befindet, meine Herren?«
    »Keinen blassen Schimmer«, sagte Teddy.
    »Im Krieg«, sagte Cawley und gähnte in sein feuchtes Taschentuch. »Ideologischer, philosophischer und ja, sogar psychologischer Krieg.«
    »Sie sind doch Ärzte«, sagte Chuck. »Ärzte spielen immer brav und teilen miteinander.«
    Cawley grinste. Sie gingen an dem Pfleger auf dem Treppenabsatz im ersten Stock vorbei. Irgendwo unten schrie jemand, das Echo floh über die Treppe zu ihnen hinauf. Es war ein klagendes Geheul, und Teddy hörte die Hoffnungslosigkeit darin, die Gewissheit, dass dem Rufer nicht gewährt würde, wonach auch immer er sich sehnte.
    »Die Vertreter der alten Schule«, erklärte Cawley, »propagieren Elektroschocks, partielle Lobotomien und bei besonders fügsamen Patienten Bäderkuren. Psychochirurgie nennt man das. Die neue Schule ist äußerst angetan von der Psychopharmakologie. Das soll die Zukunft sein. Schon möglich. Ich weiß es nicht.«
    Zwischen dem ersten und dem zweiten Stock blieb er stehen, die Hand auf dem Geländer, und Teddy nahm seine Erschöpfung wahr, ein lebendes, gebrochenes Wesen, eine vierte Kreatur neben ihnen im Treppenhaus.
    »Was

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