Shutter Island
nächsten Blumenstrauß hervorzaubert.
»Insgesamt zweiundvierzig Patienten auf den Stationen A und B. Vierundzwanzig in Station C. Macht Sechsundsechzig.«
Teddy sah, dass es einigen Ärzten dämmerte, aber die meisten machten noch immer einen vollkommen ratlosen Eindruck.
»Sechsundsechzig Patienten«, sagte Teddy. »Da liegt doch nahe, was die Frage ›Wer ist 67?‹ zu bedeuten hat: Es gibt hier einen siebenundsechzigsten Patienten.«
Stille. Die Ärzte schauten sich über den Tisch hinweg an.
»Ich kann Ihnen nicht folgen«, sagte Naehring schließlich.
»Was ist daran so schwer zu verstehen? Rachel Solando behauptet, dass es einen siebenundsechzigsten Patienten gibt.«
»Gibt es aber nicht«, sagte Cawley, die Hände vor sich auf dem Tisch. »Die Idee ist hervorragend, Marshal, und wenn sie stimmte, wäre der Code jetzt geknackt. Aber zwei und zwei ergibt niemals fünf, auch wenn Sie es sich noch so sehr wünschen. Wenn es auf der Insel nur Sechsundsechzig Patienten gibt, dann ist es müßig, nach einem siebenundsechzigsten zu fragen. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Nein«, entgegnete Teddy mit ruhiger Stimme. »Ich kann Ihnen da nicht ganz folgen.«
Cawley wählte seine Worte sorgfältig, so als suche er die einfachsten Ausdrücke. »Wenn dieser Hurrikan nicht toben würde, hätten wir heute Morgen zwei neue Patienten bekommen. Dann wären es nun insgesamt achtundsechzig. Wenn ein Patient, gottbewahre, in der letzten Nacht im Schlaf gestorben wäre, hätten wir jetzt insgesamt fünfundsechzig. Die Gesamtzahl kann sich täglich, wöchentlich ändern, sie hängt von sehr vielen Variablen ab.«
»Aber«, sagte Teddy, »in der Nacht, als Miss Solando den Code verfasste …«
»Da waren es Sechsundsechzig, sie selbst eingerechnet. Das gebe ich zu, Marshal. Aber trotzdem fehlt noch einer, damit es siebenundsechzig werden, nicht wahr? Sie versuchen mit allen Mitteln, das zurechtzubiegen.«
»Aber genau das sagt sie doch.«
»Das ist mir klar, ja. Aber sie hat sich geirrt. Es gibt hier keinen siebenundsechzigsten Patienten.«
»Würden Sie meinem Kollegen und mir gestatten, die Patientenakten einzusehen?«
Stirnrunzeln und befremdliche Blicke am ganzen Tisch.
»Auf gar keinen Fall«, sagte Naehring.
»Das geht leider nicht, Marshal.«
Kurz senkte Teddy den Kopf, betrachtete sein albernes weißes Hemd und die Hose. Er sah aus wie eine Tresenhilfe. Besaß im Moment wahrscheinlich auch die Autorität eines Aushilfskellners. Er sollte den Ärzten Eiscreme verkaufen, dann hätte er vielleicht bessere Chancen.
»Wir bekommen keine Einsicht in Ihre Personalakten. Wir bekommen keine Einsicht in Ihre Patientenakten. Wie sollen wir die vermisste Patientin finden, meine Herren?«
Naehring lehnte sich zurück, den Kopf zur Seite geneigt.
Cawley hielt mitten in der Bewegung inne, die Zigarette auf halbem Weg zu den Lippen.
Einige Ärzte begannen, miteinander zu flüstern.
Teddy sah Chuck an.
Chuck wisperte: »Guck mich nicht an. Ich habe keine Ahnung.«
»Hat der Direktor es Ihnen nicht gesagt?«, fragte Cawley.
»Wir haben nicht mit dem Direktor gesprochen. McPherson hat uns zurückgebracht.«
»Ach«, sagte Cawley. »Du meine Güte.«
»Was?«
Cawley sah die anderen Ärzte mit weit aufgerissenen Augen an.
»Was?«, wiederholte Teddy.
Cawley seufzte und schaute wieder zu Teddy und Chuck hinüber. »Wir haben sie gefunden.«
»Sie haben – was?«
Cawley nickte und zog an der Zigarette. »Rachel Solando. Wir haben sie heute Nachmittag gefunden. Sie ist hier. Hier durch die Tür und den Korridor hinunter.«
Teddy und Chuck sahen sich über die Schulter zur Tür um.
»Sie können sich jetzt ausruhen. Die Suche ist vorbei.«
11
CAWLEY UND NAEHRING führten sie durch einen schwarz-weiß gefliesten Korridor und eine Doppeltür in den Klinikbereich. Zur Linken lag das Schwesternzimmer, aber sie gingen nach rechts in einen großen Raum mit langen Neonröhren und U-förmigen Vorhangstangen, die an Haken von der Decke hingen, und da war sie, in einem blassgrünen Kittel, der knapp über dem Knie aufhörte. Sie saß auf einem Bett, das dunkle Haar frisch gewaschen und aus der Stirn gekämmt.
»Rachel«, sagte Cawley, »wir haben Freunde mitgebracht. Ich hoffe, es stört Sie nicht.«
Rachel strich den Kittelsaum glatt und schaute Teddy und Chuck mit kindlicher Erwartung an.
Sie war völlig unversehrt.
Ihre Haut hatte die Farbe von Sandstein. Gesicht, Arme und Beine waren makellos. Sie hatte nackte
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