Sibirische Erziehung
die Dinge sich gegen die Sibirer kehrten.Unser Gesetz bestimmte, dass das Mädchen nun ohne Wenn und Aber dem Vater zurückgegeben werden musste. Doch es gab noch ein Aber.
Silja, meinten die Sibirer, hatte Swjatoslaw bereits geheiratet und war zu diesem Zweck zum orthodoxen Glauben übergetreten und auf das sibirische Kreuz getauft worden. Damit unterstand sie unseren Gesetzen, und da sie einen anderen Glauben hatte als die Eltern, hatten die keine Macht mehr über sie. Wenn allerdings Moischa ebenfalls zum orthodoxen Glauben überträte, bekäme sein Wort natürlich ein ganzes anderes Gewicht ...
Außer sich vor Zorn ging Moischa mit dem Messer auf Swjatoslaw los und verletzte ihn.
Das war natürlich ein böser Fehler, denn damit hatte er während einer kriminellen Versammlung den Frieden verletzt, und darauf stand sofortiges Erhängen.
Moischa beschloss, durch das Band zu sterben, das seine Tochter im Haar trug. Mit seinen letzten Worten verfluchte er Zilja und ihren Ehemann, ihre Kinder, Kindeskinder und jeden, der ihnen nahestand – alles Schlechte, was man sich nur denken konnte, wünschte er auf sie herab.
Kurz darauf wurde Zilja krank. Es ging ihr immer schlechter, keine Arznei konnte sie heilen. Da brachte Swjatoslaw sie nach Sibirien, zu einem Schamanen vom Stamm der Nenzen, eines alten sibirischen Volks, das enge Beziehungen zu den Urki unterhielt, den sibirischen Kriminellen.
Der alte Schamane sagte, ein böser Geist halte das Mädchen in der Kälte des Todes gefangen und nehme ihr alle Lebenswärme. Um dem Geist Einhalt zu gebieten, müsse man den Ort niederbrennen, der ihn noch mit dieser Welt verband. Gleich nach seiner Rückkehr nach Transnistrien steckte Swjatoslaw mit Unterstützung anderer Sibirer dasHaus des Rabbiners Moischa in Brand und später auch die Synagoge.
Zilja wurde wieder gesund, und die beiden lebten noch lange Zeit in unserem Viertel. Sie bekamen sechs Söhne: zwei Polizistenmörder, die jung im Gefängnis starben, einen Jungen, der nach Odessa ging und mit der Zeit einen großen Handel mit gefälschter Markenbekleidung auf die Beine stellte (er war der erfolgreichste der Brüder), die anderen drei lebten als Räuber in unserem Viertel, und der jüngste, Shora, gehörte zu der Bande, die mein Vater anführte.
Im Alter gingen Swjatoslaw und Zilja in die Taiga, um dort ihr Leben zu beschließen, wie sie es sich immer gewünscht hatten.
Nachdem die Sibirer die Synagoge in Brand gesteckt hatten, verließen viele Juden das Viertel. Die letzten wurden im Zweiten Weltkrieg von den Nazis deportiert, von ihrer Gemeinschaft ist nur der alte Friedhof geblieben.
Über viele Jahre kümmerte sich niemand darum, und der Ort verwahrloste, die Leute luden dort Müll ab, und die Kinder gingen hin, um sich zu prügeln. Die Gräber wurden von Moldawiern geplündert, die mit den Steinornamenten die Tore ihrer Häuser schmückten: Aus diesem Brauch entstand die beleidigende Redensart: »Die Seele eines Moldawiers ist so schön wie das Tor seines Hauses.«
In den Siebzigerjahren begannen im ehemals jüdischen Viertel die Ukrainer ihre Häuser zu bauen. Dort lebten leichte Mädchen, mit denen wir oft Feten feierten. Wer ein Mädchen aus Balka haben wollte, musste ihr nur was zu trinken ausgeben: Sie waren bei weitem nicht so streng erzogen wie die Mädchen aus der Unterstadt und sahen Geschlechtsverkehr als Vergnügung an, aber wie so oft insolchen Fällen verwandelte sich ihr allzu freizügiger Lebenswandel in einen Fluch, und für viele wurde die freie Sexualität zu einer Falle, aus der sie nicht mehr herauskamen. Gewöhnlich schliefen sie im Alter von vierzehn zum ersten Mal mit einem Mann, manchmal auch früher. Wenn sie auf die achtzehn zugingen, kannte man ihre Namen bereits in der ganzen Stadt. Den Männern war’s recht, dass es Frauen gab, die immer bereit waren, mit ihnen ins Bett zu gehen, und nichts dafür verlangten. Es war ein Spiel, das so lange andauerte, bis der Mann genug hatte und sich eine andere nahm.
Wenn sie erwachsen wurden, dämmerte den Balka-Mädchen allmählich, in welcher Lage sie sich befanden, und sie verspürten eine große Leere. Auch sie wollten eine Familie gründen, einen Ehemann finden und werden wie alle anderen Frauen, aber das war nun nicht mehr möglich: Sie waren von der Gemeinschaft für immer gebrandmarkt, kein würdiger Mann hätte sie je heiraten können.
Wenn ihnen bewusst wurde, dass die schönen Gefühle, die ein einfaches Leben beschert,
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