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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ihnen verwehrt bleiben würden, nahmen sich erschreckend viele dieser armen Seelen das Leben. Das Phänomen von Mädchen, die Selbstmord begingen, war ein Schock für unsere Stadt, und wenn ihnen der Grund für diese Verzweiflung klar wurde, lehnten viele der Männer es ab, weiterhin mit ihnen zu schlafen, weil sie nicht an der Zerstörung dieser Existenzen teilhaben wollten.
    Ich kannte einen alten Kriminellen aus dem Zentrum namens Witja. Er wurde »Känguru« genannt, weil er in seiner Jugend in einer Schießerei an den Beinen verletzt worden war und seither einen eigenartigen Gang hatte, er brachte nur noch kleine Hüpfer zustande. Känguru besaß Nachtclubs in verschiedenen russischen Städten und hatte schon immer eine Schwäche für die Mädchen aus Balkagehabt. Doch nach den ersten Selbstmordfällen hatte Känguru als erster die wahre Tragweite des Problems erkannt. In Gegenwart von Zeugen versprach er, nicht mehr ihre Gesellschaft zu suchen, schlug sogar vor, mit den Familienangehörigen der Mädchen offen darüber zu sprechen. Doch die Ukrainer hatten eine seltsame Vorstellung von Würde: Sie ließen zu, dass ihre Töchter sich kompromittierten, taten so, als wüssten sie von nichts, und wenn ihnen jemand die Wahrheit sagte, wurden sie wütend. Aus diesem Grund stieß die Initiative von Känguru und Gleichgesinnten bei den Ukrainern auf Ablehnung, die sagten, es handle sich um ein Komplott mit dem Ziel, Schande über ihr Viertel zu bringen. Danach wurde alles noch schlimmer: Einige Väter gingen so weit, ihre Töchter eigenhändig zu töten, nur um den anderen zu zeigen, dass sie keinerlei Einmischung duldeten.
    Verschlimmert wurde das Ganze noch durch den erschreckenden Alkoholkonsum der Leute im Viertel. Wie alle Bürger der Sowjetunion tranken die Ukrainer viel, aber besonders maßlos, ohne die Schranken einer Tradition und ohne einen Hauch von Moral. In Sibirien trinkt man Alkohol nach vernünftigen Regeln, um die eigene Gesundheit nicht zu schädigen: Darum wird sibirischer Wodka auch nur aus Getreide hergestellt und durch Zuführung von Milch, die alle schädlichen Stoffe aufnimmt und dann sorgfältig abgeschöpft wird, gereinigt; das Endprodukt ist dann vollkommen rein. Außerdem darf der Wodka nur zum Essen getrunken werden (in Sibirien isst man viel und kräftig gewürzt, weil man einiges an Fett verbrennen und an Vitaminen speichern muss, um im Winter die Kälte auszuhalten): Wenn man das Richtige dazu isst, kann man ohne Weiteres bis zu einem Liter Wodka trinken. Die Ukrainer dagegen trinken Wodka unterschiedlicher Qualität, sie gewinnen den Alkohol ausKartoffeln oder Rüben, und durch den Zuckergehalt der Zutaten wird man sofort betrunken. Die Sibirer betrinken sich nie zu sehr, sie verlieren nicht die Besinnung und übergeben sich nicht, während die Ukrainer bis zur Bewusstlosigkeit trinken und manchmal zwei Tage brauchen, um sich von einem Rausch zu erholen.
    So glich das Leben im einst jüdischen, nun ukrainischen Balka einem ständigen Fest – einem Fest allerdings, über dem eine traurige Stimmung lag, als wohnte ihm eine Sehnsucht nach den einfachen menschlichen Dingen inne, die für diese Leute in unerreichbare Ferne gerückt waren.
    So etwas, sagte Großvater immer, geschieht, wenn Gott die Menschen vergisst: Sie bleiben am Leben, aber sie sind nicht mehr lebendig. Ich dagegen glaubte, dass es sich um eine extreme Form sozialer Verwahrlosung handelte, an der die gesamte Gemeinschaft litt. Vielleicht lag es daran, dass die Jugendlichen, die ohne Anhang in unsere Stadt gezogen waren, so radikal von ihren Eltern getrennt worden und dann ganz auf sich selbst gestellt waren: Niemand gab auf sie acht, und weil sie sich jedem Laster hingaben, waren sie nun ausgebrannt. Und ohne die Unterstützung der Alten erzogen sie auch ihre Kinder schlecht.
    Die Söhne der Ukrainer hatten in der Tat einen schlechten Ruf. Sie galten als Muttersöhnchen, die nicht fähig waren, irgendwas Nützliches zu tun, für sich oder für andere. In Bender traute ihnen keiner über den Weg, denn sie hatten die Angewohnheit, Lügen zu erzählen, um anzugeben, das aber so plump, dass niemand darauf hereinfiel: Wir behandelten sie einfach wie arme Irre. Einige versuchten, Eindruck zu schinden, indem sie sich Phantasiegesetze ausdachten, zum Beispiel, dass ein Bruder seine Schwester zur Prostitution zwingen kann. Seinen Lebensunterhalt mit Zuhälterei zu bestreiten, galt schon immer als unwürdiges Vergehen: Kriminelle,

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