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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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dem Umfeld des Grafen und sagte:
    »Diesmal lasse ich euch gehen, aber nur um die ohnehin schwierigen Beziehungen zwischen unseren Gemeinschaften nicht noch komplizierter zu machen.«
    »Soso«, gab Gagarin ironisch zurück, »ich denke, duhast bereits genug getan, um die Situation noch schwieriger zu machen: deine eigene und die deiner Oberen.«
    Ohne uns zu verabschieden, gingen wir zu unseren Autos. Als wir losfuhren, standen sie noch immer unter dem Lichtmast und flüsterten miteinander. Offensichtlich hatten sie noch nicht begriffen, was passiert war.
    Es sollte sich sehr bald klären.
    Drei Tage später stellten Gagarin, ich, Mel und der Stumme bei Großvater Kusja ein förmliches »Gesuch« wegen Bedrohung und Beleidung der Gruppe.
    Nach diplomatischen Verhandlungen mit den Kriminellen aus den verschiedenen Stadtvierteln wurden die Dummköpfe von den Georgiern selbst bestraft, die es leid waren, von den Gemeinschaften anderer Viertel boykottiert zu werden. Die Leute aus dem Zentrum hatten damit gedroht, alle Geschäfte der Georgier in ihrem Viertel zu schließen, das weiß ich sicher.
    Der dünne Junge, der mit uns geredet hatte, verschwand im Nichts. Jemand sagte, er wäre in einem Grab mit doppeltem Boden beerdigt worden – eine sichere Art, unbequeme Leichen loszuwerden, indem man sie in das Grab eines anderen legte. Es war gut möglich, dass im Grab eines Verstorbenen mehrere Personen lagen, die in ihrer Gemeinschaft als vermisst galten.

    Nachdem wir aus dem Kaukasus raus waren, fuhren wir Richtung Zentrum, um Nachforschungen über die obskuren Eindringlinge anzustellen, die Mino und seine Freunde beobachtet hatten. Wir mussten herausfinden, ob sie etwas mit unserem Fall zu tun hatten.
    Die Straße, die den Kaukasus mit dem Zentrum von Bender verband, führte durch ein Viertel namens Balka, was auf Russisch einfach »Holzbalken« bedeutet, im Verbrecherjargon aber »Friedhof«. Den Namen trug dasViertel aus dem einfachen Grund, weil sich dort früher der alte Friedhof der polnischen Juden befunden hatte. Um diesen Friedhof herum, das wusste ich von Großvater, war seit den Dreißigerjahren das jüdische Viertel entstanden und stetig gewachsen.
    Durch Balka konnte ich nicht fahren, ohne an die schrecklich-schöne Geschichte zu denken, die Großvater mir erzählt hatte. Und die ich jetzt hier erzähle.

    Der geistige Führer der jüdischen Gemeinschaft von Balka war ein alter Mann namens Moischa. Angeblich war er der erste Jude gewesen, der nach Transnistrien kam, und dank seiner starken Persönlichkeit hatte er sich die Wertschätzung aller erworben. Er hatte drei Söhne und eine Tochter »zum Heiraten«, wie man bei uns sagt, das heißt eine junge Frau, die nichts weiter zu tun hatte als das Haus zu hüten und sich darauf vorzubereiten, dem zukünftigen Ehemann zu gehorchen, seine Kinder großzuziehen und »in die Faust zu husten«, das heißt absolute Unterwerfung zu zeigen.
    Die Tochter des Rabbiners hieß Zilja und war ein sehr schönes Mädchen mit großen blauen Augen. Sie half ihrer Mutter im familieneigenen Stoffgeschäft im Zentrum, das manche Kunden nur betraten, um einen Augenblick ihre Gegenwart zu genießen. Viele jüdische Familien hatten beim Rabbiner Heiratsanträge für ihre Söhne gestellt, aber er akzeptierte keinen von ihnen, weil er viele Jahre zuvor, als Zilja gerade geboren war, ihre Hand dem Sohn eines Freundes versprochen hatte, einem jungen Mann aus Odessa.
    Unter den Juden waren arrangierte Ehen üblich, die Familienväter waren daran interessiert, ihre Sippen zu vereinen. Die Brautleute wussten nichts übereinander und waren selten mit der Wahl ihrer Eltern einverstanden,aber sie wagten nicht, zu widersprechen, und vor allem wagten sie nicht, gegen die Tradition zu verstoßen, weil sie sonst für immer aus der Gemeinschaft ausgeschlossen worden wären. Darum litten sie still und fügten sich in ihr Los, durch das ihr restliches Leben zu einer endlosen Tragödie wurde. So bekannt war dieser Brauch, dass wir Sibirer über das Unglück der jüdischen Frauen Witze machten und eine verzweifelte oder traurige Lage als »jüdische Braut« bezeichneten.
    Auch Zilja schien sich in alles zu schicken und akzeptierte als perfekte Jüdin ohne Murren den Gedanken, einen Mann zu heiraten, der zwanzig Jahre älter war als sie und – so viel man wusste – noch weitere Mängel aufwies.
    Bis eines Tages Swjatoslaw, ein junger sibirischer Krimineller, der gerade erst nach Transnistrien gekommen

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