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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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griff die Köter wiederholt an, und die verprügelten ihn mächtig und schlugen ihm mit dem Pistolengriff auf den Kopf, bis er eine klaffende Wunde hatte.
    Schließlich ließen sie uns laufen und drohten, beim nächsten Mal würden sie uns umbringen. Hungrig, müde, erschöpft von den Schlägen und der Anspannung machten wir uns auf den Heimweg.
    Erst da, während ich mich wie ein Sterbender durch die Straßen meines Viertels schleppte, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich großes Glück gehabt hatte. Wenn die Polizei mich identifiziert hätte, wären mir mindestens fünf Jahre auf den Holzpritschen irgendeines Jugendgefängnisses sicher gewesen.
    Erst war ich besoffen vor Freude. Ein Wunder, sagte ich mir, ein echtes Wunder, dass wir nach so einer Geschichte auf freiem Fuß waren. Gleichzeitig musste ich immer an meine Pika denken: als hätte sich in mir ein schwarzes Loch aufgetan, als wäre jemand von meinen Liebsten gestorben.
    Mit gesenktem Blick ging ich nach Hause, am liebsten hätte ich mich in Luft aufgelöst, so sehr schämte ich mich, es kam mir vor, als verurteilte mich alle Welt dafür, dass ich nicht fähig gewesen war, meine Pika zu retten.
    Als ich ankam, war ich wie ein Gespenst, durchsichtig und erloschen. Onkel Witalij trat auf die Veranda und sagte lächelnd:
    »Sieh an! Ist Auschwitz wieder in Betrieb, oder was? Wieso weiß ich davon denn noch gar nichts?«
    »Lass mich, Onkel, mir tut alles so weh, dass ich heulen könnte ... Ich will nur noch schlafen ...«
    »Ja ja, mein lieber Junge, wer austeilt, muss auch einstecken können ... So ist das nun mal im Leben ...«
    Zwei Tage lang tat ich nichts anderes als schlafen und in den Wachpausen essen. Ich war total kaputt, und jedes Mal, wenn ich mich im Bett umdrehte, musste ich die Zähne zusammenbeißen. Ab und zu ließen sich mein Vater oder mein Onkel an der Tür zu meinem Zimmer blicken und machten sich über mich lustig:
    »Tut gut, was, nach so einem Anschiss ... Ist dir die Lust vergangen?«
    Ich erwiderte nichts, sondern stöhnte nur, und bei jedem Stöhnen von mir lachten sie.
    Am dritten Tag trieb mich die Lust, ins normale Leben zurückzukehren, dazu, früh aufzustehen. Es war fast sechs Uhr morgens, alle schliefen noch außer Großvater Boris, der sich auf seine Gymnastik vorbereitete. Ich fühlte mich unwohl, es tat nicht mehr weh, aber ich war wie gelähmt, jede Bewegung kostete Mühe, ich war langsam wie ein alter Mann, der Angst hat, das Gleichgewicht zu verlieren.
    Ich wusch mich und untersuchte mein Gesicht im Badezimmerspiegel. Der blaue Fleck war nicht so groß, wie ich gedacht hatte, man sah ihn fast nicht. Dafür hatte ich auf der rechten Hand zwei schwarze Flecken, von denen einer eindeutig die Form eines Stiefelabsatzes hatte. Während sie auf mich einprügelten, musste ein Köter mir die Hand zerquetscht haben: Das taten sie oft, zu Präventivzwecken, um einem komplizierte, schlecht heilende Brüche beizubringen, so dass man hinterher nicht mehr richtig die Faust ballen oder eine Waffe halten konnte. Zum Glück waren es nur blaue Flecke, nichts war gebrochen, keine Sehne gerissen. Einen weiteren großen blauen Fleck hatte ich zwischen den Beinen, direkt unter meinem männlichen Stolz: als hätte sich etwas Schwarzes an meinen Körper geklebt, es war beängstigend, und vor allem tat es weh, wenn ich die Blase leerte.
    »Hätte schlimmer kommen können ...«, sagte ich mir und ging frühstücken. Warme Milch mit Honig und ein frisches Ei machten wieder einen Menschen aus mir.
    Ich beschloss, nach meinem Boot am Fluss zu sehen und ein bisschen die Netze auszuwerfen und vielleicht auf dem Weg durchs Viertel etwas über meine Freunde in Erfahrung zu bringen.
    Als ich aus dem Haus ging, stieß ich auf Großvater, der im Hof Gymnastik machte. Großvater Boris war ein Fels, er rauchte nicht und hatte auch sonst keine Laster, er war ein totaler Gesundheitsapostel. Er betrieb Ringen, Judound Sambo und hatte diese Leidenschaften auf die restliche Familie übertragen. Wenn er trainierte, machte er gewöhnlich nicht eine Sekunde Pause: Deshalb grüßten wir uns nur mit dem Blick. Ich machte eine Geste, damit er wusste, dass ich fortging, und er lächelte zurück, mehr nicht.
    Ich schlug den Weg zum Flussufer ein. An der Ecke, beim Tor zu Mels Haus, sah ich die massige Gestalt meines Freundes. Er war nackt, in Unterhose, und redete mit einem Jungen aus unserem Viertel, den wir »der Pole« nannten. Er zeigte ihm all seine blauen

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