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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Flecke, erzählte ihm, was passiert war, und prügelte sich gestenreich mit imaginären Feinden.
    Ich ging zu ihnen. Die Wunde auf Mels Kopf war mit zehn Stichen genäht worden. Über sein grässliches Gesicht ging ein Lächeln. Achtzig Prozent seines Körpers waren blau, manchmal grün und an einigen Stellen tiefschwarz. Aber trotz seines körperlichen Zustands war er allerbester Laune und begrüßte mich mit den Worten:
    »Heiliger Jesus Christus, deine arme Mama! Wie haben sie dich denn zugerichtet!«
    Ich musste lachen. Der Pole fiel ein: Er krümmte sich vor Lachen, die Tränen standen ihm in den Augen.
    »He, du Clown, hast du dich mal im Spiegel gesehen? Mich sollen sie übel zugerichtet haben!? Zieh dich an, los, wir gehen runter zum Fluss ...«, sagte ich und gab Mel einen Klaps auf die Schulter. Er schrie auf.
    »Kannst du vielleicht ein bisschen zarter mit mir umgehen? Ich hab sie nämlich für euch alle gekriegt!«, sagte er selbstgefällig.
    Er ging sich schnell anziehen, und wir machten uns auf den Weg zum Fluss. Unterwegs brachte er mich auf den neuesten Stand: Alle waren wohlauf, ein bisschen zerbeult, aber wohlauf. Gagarin war schon am Tag nach derSchlägerei wieder in den Kaukasus, ein anderes Stadtviertel, gegangen, um dort eine Rechnung zu begleichen. Lyesa und Teufel, denen es auf wundersame Weise gelungen war, sich im Park zu verstecken und die deshalb nicht geschnappt worden waren, ging es am besten von allen, sie hatten nicht mal einen Kratzer abbekommen.
    Als wir zu meinem Boot kamen, ließ ich den Motor herunter und fragte Mel, ob er Lust auf eine Tour auf dem Fluss hätte. Es blies ein frischer Wind, die Morgenluft war herrlich, die Sonne ging über dem Land auf, und alles war friedlich und klar.
    Mel sprang ins Boot. Er legte sich in den Bug und betrachtete den wolkenlosen Himmel: Das hieß ja.
    Ich nahm einen Riemen und stieß das Boot vom Ufer ab, dann ruderte ich langsam im Stehen: Der Wind wehte mir ins Gesicht, es war schön und entspannend. Zehn Meter vom Ufer entfernt, wo die Strömung immer stärker wurde, warf ich den Motor an und fuhr mit langsam ansteigender Geschwindigkeit stromaufwärts Richtung Alte Brücke. Ich zog die Jacke an, die ich im Boot liegen hatte. Mel lag noch immer im Bug, er bewegte sich nicht, die Augen waren geschlossen, nur ein Fuß wippte leicht auf und ab.
    Bei der Brücke fuhr ich eine weite Kurve und schaltete den Motor aus, so dass die Strömung das Boot trug und ich nur ab und zu mit dem Riemen die Richtung korrigieren musste. Während wir langsam den Fluss hinabtrieben, sprangen wir ab und zu ins Wasser und schwammen ums Boot. Im Wasser fühlte ich mich beschützt, ich ließ mich von der Strömung tragen, klammerte mich ans Boot oder schwamm etwas abseits. Das Wasser des Flusses war die beste Medizin der Welt, ich hätte den ganzen Tag drinbleiben können.
    Als wir ans Ufer stießen, sprang Mel vom Boot undsagte, er wolle noch zu einer alten Tante, die in der Nähe wohnte und sich immer beklagte, dass keiner sie besuche. Ich beschloss, zu Großvater Kusja zu gehen und ihm zu erzählen, was passiert war. Wir hatten also beide an unsere Alten gedacht.

    In der Gemeinschaft der sibirischen Urki spielt die Beziehung zwischen Kindern und Alten eine zentrale Rolle. Deshalb gibt es zahlreiche Bräuche und Traditionen, durch die die alten, erfahrenen Kriminellen an der Kindererziehung teilhaben, selbst wenn sie keine Blutsbande mit dem Kind verbinden. Ein erwachsener Krimineller bittet einen Alten, gewöhnlich einen, der keine Familie hat und allein lebt, ihm bei der Erziehung seiner Kinder zu helfen. Oft werden die Kinder zu ihm geschickt, damit sie ihm Essen bringen oder im Haus zur Hand gehen; zum Tausch erzählt der Alte Geschichten aus seinem Leben und bringt den Kindern die kriminellen Bräuche bei, Prinzipien und Verhaltensregeln, die Codes der Tätowierungen und alles, was sonst noch mit der kriminellen Aktivität zu tun hat. Diese Art von Beziehung heißt auf Sibirisch »Schnitzen«, wegen der Ähnlichkeit zwischen der Erziehung eines jungen Menschen und der Bearbeitung eines Holzklotzes, der als Rohling so lange bearbeitet wird, bis aus ihm ein Kunstwerk oder ein Gebrauchsgegenstand geworden ist.
    Das Wort »Großvater« hat in der Gesellschaft der sibirischen Kriminellen mehrere Bedeutungen: Großeltern heißen natürlich die Verwandten, die Eltern der Eltern, aber es ist auch die Bezeichnung für die höchsten Autoritäten der Verbrecherwelt: In

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